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21.08.2012 14:40

Narkosemittel beugt Erschöpfungstod von Hirnzellen vor

Dr. Annette Tuffs Unternehmenskommunikation
Universitätsklinikum Heidelberg

    Nach Hirnblutungen, schwerem Schlaganfall oder Kopfverletzungen überziehen elektrische Entladungswellen das Gehirn und verursachen das weitere Absterben von Nervenzellen. Neurochirurgen des Universitätsklinikums Heidelberg haben nun in einer internationalen Studie gezeigt, dass das gängige Narkosemittel Ketamin das Auftreten dieser Wellen drastisch vermindert. Damit gibt es einen ersten Behandlungsansatz für das bisher unkontrollierbare Phänomen. Die Ergebnisse wurden jetzt im Fachjournal „Brain“ veröffentlicht.

    Stirbt im Gehirn nach Verletzungen, Blutungen oder einer anhaltenden Unterbrechung der Blutversorgung (ischämischer Schlaganfall) Nervengewebe ab, sind auch die angrenzenden Hirnareale gefährdet: Am Rand des abgestorbenen Gewebes entstehen Wellen elektrischer Entladungen, sogenannte „Spreading Depolarisations“, die sich über die benachbarten Regionen ausbreiten. Darauf folgt Schweigen – die Gehirnaktivität in diesen Bereichen kommt kurz zum Erliegen, denn die Nervenzellen sind vorrübergehend nicht mehr in der Lage, Signale weiterzugeben. Je häufiger solche Wellen auftreten, desto länger brauchen die Zellen, um sich wieder zu erholen. Schließlich sterben sie ab.

    Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2011 zeigte, dass Patienten, bei denen diese Wellen auftreten, schwerere neurologische Schäden davontragen als Patienten, deren Nervenzellen diesem Stress nicht ausgesetzt sind. „Dabei kommt es vor allem auf die Frequenz an: Je schneller die Depolarisationswellen aufeinander folgen, desto schlechter die Prognose“, erklärt Dr. Daniel Hertle, Assistenzarzt der Neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Andreas Unterberg) und Erstautor des nun veröffentlichten Artikels. Ob ein Patient z.B. dauerhaft ins Koma fällt, lebenslang gelähmt bleibt oder die Fähigkeit zu Sprechen verliert, hängt also nicht nur von der Größe des ursprünglich betroffenen Hirnareals ab, sondern auch maßgeblich davon, welchen zusätzlichen Schaden die Entladungswellen verursachen.

    Ketamin senkt Anzahl der Entladungswellen um 60 Prozent

    "Wir gehen davon aus, dass sich schwere Folgeschäden wie lebenslange Behinderungen zum Teil verhindern ließen, wenn wir die Entladungswellen unterdrücken könnten“, sagt Privatdozent Oliver Sakowitz, Geschäftsführender Oberarzt der Neurochirurgischen Universitätsklinik und Seniorautor des Artikels. Bisher standen die Mediziner diesen Vorgängen im Gehirn hilflos gegenüber – die aktuelle Studie beschreibt nun erstmals einen möglichen Behandlungsansatz. In die Studie, an der sich neben Heidelberg die Universitätskliniken Charité, Berlin, und Köln, das King's College London sowie die Universitäten in Pittsburgh, Richmond und Cincinnati, USA, beteiligten, wurden 115 Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma, Hirnblutungen oder ischämischem Schlaganfall eingeschlossen.

    Bei allen Patienten musste im Zuge der Behandlung das Gehirn teilweise freigelegt werden, so dass die Messelektroden an der Hirnoberfläche rund um das geschädigte Gewebe angelegt werden konnten. Anschließend wurde die Operationsnaht verschlossen und die Hirnströme über 15 Tage gemessen. Die Patienten befanden sich aufgrund ihrer schweren Erkrankung anfänglich bzw. einige Zeit im künstlichen Koma. Als Narkosemittel kamen sechs verschiedene Medikamentengruppen zum Einsatz; jedes Zentrum verwendete seine üblichen Wirkstoffkombinationen.

    Die Auswertung der Messdaten ergab: Im Gehirn von Patienten, die das Narkosemittel S-Ketamin erhalten hatten, traten 60 Prozent weniger Entladungswellen auf als bei Patienten, die zum Zeitpunkt der Messung nicht narkotisiert waren. „Diese Wirkung kennen wir aus Tierversuchen. Nun haben wir sie erstmals bei Menschen nachgewiesen“, so Hertle. Bei den übrigen Wirkstoffgruppen zeigte sich kein solcher Effekt. Die weitere Auswertung der Patientendaten muss nun zeigen, ob die Eindämmung der Entladungswellen auf lange Sicht tatsächlich mit besseren Heilungschancen einhergehen. Darüber hinaus ist eine weitere Studie in Planung, in der Ketamin gezielt zur Vorbeugung der Entladungswellen eingesetzt werden soll. „Ketamin ist in der klinischen Routine fest etabliert. Wir hoffen, dass es, falls es sich bewährt, schnell in der Behandlung nach Hirnverletzungen eingesetzt werden kann“, sagt der Neurochirurg.

    Literatur:
    Hertle DN, Dreier JP, Woitzik J, Hartings JA, Bullock R, Okonkwo DO, Shutter LA, Vidgeon S, Strong AJ, Kowoll C, Dohmen C, Diedler J, Veltkamp R, Bruckner T, Unterberg AW, Sakowitz OW; for the Cooperative Study of Brain Injury Depolarizations COSBID (2012)
    Effect of analgesics and sedatives on the occurrence of spreading depolarizations accompanying acute brain injury. Brain. 135(Pt 8):2390-2398.

    Hartings JA, Bullock MR, Okonkwo DO, Murray LS, Murray GD, Fabricius M, Maas AI, Woitzik J, Sakowitz O, Mathern B, Roozenbeek B, Lingsma H, Dreier JP, Puccio AM, Shutter LA, Pahl C, Strong AJ; Co-Operative Study on Brain Injury Depolarisations (2011) Spreading depolarisations and outcome after traumatic brain injury: a prospective observational study. Lancet Neurol. Dec;10(12):1058-64.

    Dreier JP. The role of spreading depression, spreading depolarization and spreading ischemia in neurological disease (2011) Nat Med. 2011 Apr;17(4):439-47. Review.

    Kontakt für Journalisten:
    Dr. Daniel Hertle
    Neurochirurgische Universitätsklinik Heidelberg
    Tel.: 06221 / 56 36302
    E-Mail: Daniel.Hertle@med.uni-heidelberg.de

    PD Dr. Oliver W. Sakowitz
    Neurochirurgische Universitätsklinik Heidelberg
    Tel.: 06221 / 56 6909
    E-Mail: Oliver.Sakowitz@med.uni-heidelberg.de

    Internet:
    http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/Willkommen.120228.0.html

    Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Heidelberg
    Krankenversorgung, Forschung und Lehre von internationalem Rang
    Das Universitätsklinikum Heidelberg ist eines der größten und renommiertesten medizinischen Zentren in Deutschland; die Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg zählt zu den international bedeutsamen biomedizinischen Forschungseinrichtungen in Europa. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung neuer Therapien und ihre rasche Umsetzung für den Patienten. Klinikum und Fakultät beschäftigen rund 11.000 Mitarbeiter und sind aktiv in Ausbildung und Qualifizierung. In mehr als 50 Departments, Kliniken und Fachabteilungen mit ca. 2.000 Betten werden jährlich rund 550.000 Patienten ambulant und stationär behandelt. Derzeit studieren ca. 3.600 angehende Ärzte in Heidelberg; das Heidelberger Curriculum Medicinale (HeiCuMed) steht an der Spitze der medizinischen Ausbildungsgänge in Deutschland.

    http://www.klinikum.uni-heidelberg.de

    Bei Rückfragen von Journalisten:
    Dr. Annette Tuffs
    Leiterin Unternehmenskommunikation / Pressestelle
    des Universitätsklinikums Heidelberg und der
    Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg
    Im Neuenheimer Feld 672
    69120 Heidelberg
    Tel.: 06221 56-4536
    Fax: 06221 56-4544
    E-Mail: annette.tuffs@med.uni-heidelberg.de

    Julia Bird
    Referentin Unternehmenskommunikation / Pressestelle
    des Universitätsklinikums Heidelberg und der
    Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg
    Im Neuenheimer Feld 672
    69120 Heidelberg
    Tel.: 06221 56-7071
    Fax: 06221 56-4544
    E-Mail: julia.bird@med.uni-heidelberg.de

    Diese Pressemitteilung ist auch online verfügbar unter
    http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/presse

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    97 / 2012

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    Dr. Daniel Hertle, Assistenzarzt der Neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg, prüft Hirnströme eines Patienten.
    Dr. Daniel Hertle, Assistenzarzt der Neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg, prüft Hirnstr ...
    Foto: Universitätsklinikum Heidelberg.
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Dr. Daniel Hertle, Assistenzarzt der Neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg, prüft Hirnströme eines Patienten.


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