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29.06.2017 20:00

Ethische Richtlinien für den Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen gefordert

Antje Karbe Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Datenschutz, Haftung und Sicherheit müssen bedacht werden, verlangen Wissenschaftler der Universität Tübingen

    International führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Gebiet der Neurophysiologie, der Neurotechnologie und der Neuroethik haben ethische Richtlinien für den Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen formuliert. Sie sollen Datenschutz, Haftung und Sicherheit bei hirngesteuerten Systemen gewährleisten; bisher wurden diese Aspekte wenig beachtet und sind teilweise noch völlig ungeklärt. Technologien, die Hirnaktivität in Steuersignale von Computern, Robotern oder Prothesen übersetzen, sind bereits sehr weit entwickelt. In einem Beitrag für das Fachmagazin Science mit dem Titel „Help, Hope and Hype“ fordern die Wissenschaftler einen verantwortungsbewussten Umgang mit solchen Gehirn-Computer-Schnittstellen (DOI: 10.1126/science.aam7731). Zentrale Forderung ist eine „Veto“-Funktion, die unbeabsichtigte Befehle unterbricht. Die Forscherinnen und Forscher, darunter die Tübinger Wissenschaftler Niels Birbaumer und Surjo R. Soekadar, schlagen außerdem vor, dass alle Daten vorübergehend und verschlüsselt gespeichert werden sollten, wie bei der Blackbox eines Flugzeugs.

    Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich intensiv mit den ethischen Aspekten von Gehirn-Computer-Schnittstellen auseinandergesetzt. Mit ihrer Forschung haben einige von ihnen wesentlich dazu beigetragen, dass diese Technologie für den medizinischen Bereich sehr weit entwickelt ist. Mittlerweile haben auch private Investoren, wie Mark Zuckerberg (Facebook) oder Elon Musk (Tesla, SpaceX) das Forschungsgebiet für sich entdeckt. Richtlinien könnten Forschern, Entwicklern und Anwendern auf dem Weg zum alltäglichen Einsatz der hirngesteuerten Systeme helfen, verantwortungsbewusst mit ethischen Aspekten der Technologie umzugehen. Gleichzeitig sei es wichtig, die Öffentlichkeit über Möglichkeiten und Grenzen der neuen Technologie zu informieren. Bisher begeisterten Gehirn-Computer-Schnittstellen noch als sensationelle Neuheiten – die gesellschaftliche Diskussion darüber sollte jedoch faktenbasiert stattfinden.

    Gehirn-Computer-Schnittstellen sind Systeme, die Hirnaktivität in Steuersignale von Computern, Robotern oder Prothesen übersetzen. Bereits 1999 fand der Tübinger Neuropsychologe Niels Birbaumer eine Möglichkeit, Patienten mit sogenanntem Locked-In-Syndrom mithilfe von Hirnsignalen Briefe buchstabieren zu lassen. 2017 ermöglichte er auch vollständig Gelähmten im complete locked-in state (CLIS) einfache Ja/Nein Antworten zu geben. Der Tübinger Psychiater und Neurowissenschaftler Surjo R. Soekadar zeigte zuletzt, dass Gehirn-Computer-Schnittstellen auch im Alltag einsetzbar sind. Beispielsweise können Querschnittsgelähmte mithilfe eines hirngesteuerten Exoskeletts selbstständig essen und trinken.

    Zwar sei es noch nicht möglich, mit Gehirn-Computer-Schnittstellen komplexere Gedanken auszulesen, erklärte Soekadar. „Dies kann sich aber möglicherweise bald ändern. Wir müssen daher vom Ende her denken.“ Die aufgezeichneten Hirnsignale müssten vor unerlaubtem Zugriff geschützt werden. Außerdem stelle sich die Frage der Verantwortung für Fehler, die bei der Übersetzung von Hirnaktivität in Steuersignale auftreten könnten. Als zentrale Forderung mahnen die Autorinnen und Autoren hier eine „Veto“-Funktion an, um unbeabsichtigte Steuerbefehle der Gehirn-Computer-Schnittstelle zu unterbrechen. „Der Mensch muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage sein, die Maschine zu stoppen“, so Soekadar. Auch sein System verfüge über eine Veto-Funktion, die über eine bestimmte Augenbewegung ausgelöst wird. Elektrische Hirnsignale, die von der Kopfoberfläche abgeleitet werden, könnten für diese Funktion noch nicht zuverlässig genutzt werden.

    Wie in einem Flugzeug müssten alle Biosignale und Steuerbefehle in einer Black-Box für einen begrenzten Zeitraum gespeichert werden, so die Wissenschaftler. Nur so ließen sich haftungsrechtliche Fragen eindeutig klären. Neben Schutz vor unerlaubtem Auslesen aufgezeichneter Signale, müssten sämtliche Daten sicher verschlüsselt werden. Dies sei aktuell keine gängige Praxis – es lasse sich somit nicht ausschließen, dass Informationen von Dritten missbraucht würden („Brainhacking“). Bei implantierbaren Systemen oder Gehirn-Computer-Schnittstellen, die Gehirngewebe auch direkt stimulieren können, sei besondere Vorsicht geboten: Im Extremfall sei ein sogenanntes „Brainjacking“ nicht auszuschließen, also die Manipulation des Systems zur gezielten Beeinflussung von Hirnfunktionen oder Verhalten.

    „Die technologischen Fortschritte im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen entwickeln sich derzeit so rasant, dass es höchste Zeit ist, rechtliche und ethische Rahmenbedingungen zu definieren und durchzusetzen“, fordert Jens Clausen, Neuroethiker an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Mitglied des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen. Eine Frage der Ethik sei auch der Umgang mit Hoffnungen, die bei Patienten und ihren Angehörigen geweckt werden. Aufsehenerregende Demonstrationen hirngesteuerter Systeme führten oft zu überzogenen Erwartungen. Die Medien sowie wirtschaftliche Profiteure seien deshalb in der Verantwortung, den Nutzen, aber auch Grenzen und Risiken dieser Technologien, ausgewogen darzustellen. Die Vermittlung von Wissen über technische Möglichkeiten und Grenzen (sogenannte „Neuroliteracy“) müsse Teil des öffentlichen Bildungsauftrags werden.

    Publikation: Clausen J, Fetz E, Donoghue J, Ushiba J, Spörhase U, Chandler J, Birbaumer N, Soekadar SR. Help, Hope and Hype: Ethical Dimensions of Neuroprosthetics. Science 2017;356 (6345):2-3. DOI: 10.1126/science.aam7731

    Soekadar SR, Witkowski M, Gómez C, Opisso E, Medina J, Cortese M, Cempini M, Carozza MC, Cohen LG, Birbaumer N, Vitiello N. Hybrid EEG/EOG-based brain/neural hand exoskeleton restores fully independent daily living activities after quadriplegia. Science Robotics 2016. 1, eaag 3296 (2016). Video zur Studie: http://goo.gl/qs3wjf

    Chaudhary U, Xia B, Silvoni S, Cohen LG, Birbaumer N. Brain-Computer Interface-Based Communication in the Completely Locked-In State. PLoS Biol. 2017;31:15:e1002593. DOI: 10.1371/journal.pbio.1002593.

    Kontakt:
    Dr. Surjo R. Soekadar, MD
    Universität Tübingen
    Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
    Arbeitsgruppe Angewandte Neurotechnologie
    Telefon +49 7071 29-82640
    Mobil +49 163 16 44 88 9
    surjo.soekadar@uni-tuebingen.de

    Prof. Dr. Jens Clausen
    Pädagogische Hochschule Freiburg
    Ethik und Lebenswissenschaften und ihre Didaktik
    Telefon +49 761 682-566
    jens.clausen@ph-freiburg.de


    Weitere Informationen:

    http://goo.gl/qs3wjf


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    Einsatz einer hirngesteuerten Handprothese im Alltag: bald ein normaler Anblick?
    Einsatz einer hirngesteuerten Handprothese im Alltag: bald ein normaler Anblick?
    Surjo R. Soekadar / Universität Tübingen
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
    Gesellschaft, Informationstechnik, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Medizin, Recht
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

    Einsatz einer hirngesteuerten Handprothese im Alltag: bald ein normaler Anblick?


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