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13.02.2018 11:00

Entfesselte Finanzmärkte und private Haushalte

Stefan Schwendtner Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

    Workshop zu den Folgen des Finanzmarktkapitalismus in Ost- und Südeuropa

    Am 22. und 23. Februar findet am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ein Workshop mit dem Titel „Households and Peripheral Financialisation in Europe“ statt. Die Organisatoren sind Dr. Marek Mikuš, Abteilung „Resilienz und Transformation in Eurasien“ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, und Dr. Petra Rodik, Institut für Soziologie der Universität Zagreb. Bei der Tagung wird es hauptsächlich um die Auswirkungen der liberalisierten Finanzmärkte auf private Haushalte in Ost- und Südeuropa gehen. Die Tagungssprache ist Englisch.

    Finanzialisierung: ein globales Phänomen
    Die Deregulierung der Finanzmärkte, die in den 1970er Jahren begann, hat eine umfassende Transformation des kapitalistischen Wirtschaftssystems ausgelöst: War der Finanzsektor ursprünglich im Wesentlichen Dienstleister für die produktive Realökonomie, hat er seit seiner Liberalisierung durch Reagan und Thatcher weltweit ganz erheblich an Macht und Einfluss gewonnen. „Diese Entwicklung wird in der wissenschaftlichen Diskussion als „Finanzialisierung“ bezeichnet“, erklärt Dr. Marek Mikuš, Mitglied der Forschergruppe „Financialisation“ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle. „Dieser Begriff bezeichnet einen globalen Prozess, in dessen Verlauf beispielsweise auch private Haushalte und Individuen unter den Einfluss der internationalen Finanzwirtschaft gerieten.“ Insbesondere in Ost- und Südeuropa haben viele Menschen aufgrund mangelnder Alternativen in den letzten Jahrzehnten Wohneigentum über Kredite finanziert. „Aber auch durch die Ausweitung des Geschäfts mit Anlagen, Aktien- und Pensionsfonds haben Banken immens viele Privatkunden gewonnen. In der Folge wird der Alltag dieser Menschen jetzt von Finanzprodukten beeinflusst, die es früher entweder gar nicht gab oder für die sich im privaten Sektor kaum jemand interessiert hat“, sagt Mikuš.

    Risiken von Finanzgeschäften stark unterschätzt
    Trotz dieses Einflusses des Finanzsektors auf private Haushalte sind die konkreten Auswirkungen der Finanzialisierung auf die Menschen und ihre Beziehung zueinander bisher kaum untersucht worden. Mikuš: „Haushalte sind für Ökonomen in erster Linie statistische Größen. Die Binnenstruktur und die kommunikativen Beziehungen innerhalb eines Haushalts spielen für sie meist eine geringe Rolle. Mit ethnologischen und soziologischen Methoden können wir aber beispielsweise Veränderungen von Familien- oder Verwandschaftsbeziehungen sehr gut erfassen.“ Und insbesondere in Osteuropa sind diese Veränderungen alltägliche Realität. Denn die Privatisierung der Wohnungswirtschaft veranlasste viele Menschen, Wohneigentum auf der Basis von Krediten zu erwerben. Die Liberalisierung des Finanzsektors machte diese Form der Finanzierung sogar in fremden Währungen wie beispielsweise dem Schweizer Franken möglich. „Die Menschen in Osteuropa hatten aber kaum Erfahrung im Umgang mit solchen hochriskanten Finanzprodukten. Gleichzeitig haben Banken und Aufsichtsbehörden wenig dazu beigetragen, um die Risiken von Währungsschwankungen zu erklären und zu regulieren“, sagt Mikuš. Ein weiteres Problem in vielen ost- und südeuropäischen Ländern sind die Immobilienblasen, die durch die Ausweitung der Kreditgeschäfte entstanden sind. Wenn die Immobilienpreise einbrechen, dann stehen viele Menschen mit Krediten da, die höher sind als der Wert ihrer Immobilie.

    Finanzialisierung ergreift alle Lebensbereiche
    Marek Mikuš selbst hat in Kroatien ethnologische Feldstudien bei Familien durchgeführt, die durch Bankkredite in Abhängigkeit zu den globalen Finanzmärkten geraten sind. „Einige dieser Menschen befinden sich plötzlich in einer Situation, die für sie gar nicht vorhersehbar war“, erklärt Mikuš. „Wer sich auf 20 oder 30 Jahre hinaus verschuldet, muss unter Umständen sein ganzes Leben und das von Familienmitgliedern der Rückzahlung von Krediten unterordnen. Krisen des Alltags wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit können sich da schnell zu Katastrophen für die ganze Verwandtschaft ausweiten.“ Durch die umfassende Abhängigkeit des Finanzsektors von der globalen Wirtschaftsentwicklung sind aber nicht nur die Risiken innerhalb eines Haushalts stark gestiegen. Wie die Finanzkrise 2009 gezeigt hat, können innerhalb von wenigen Monaten immense Werte und damit auch Lebensentwürfe vernichtet werden. „Welche Auswirkungen die Risiken, die durch die Finanzialisierung aller Lebensbereiche entstanden sind, auf die Mitglieder von privaten Haushalten haben, wollen wir bei unserem Workshop näher untersuchen“, sagt Mikuš. „Bei meiner Feldforschung in Kroatien habe ich durchaus ambivalente Entwicklungen gesehen. Durch den großen Druck können Beziehungen zerbrechen. Manchmal führt er aber auch dazu, dass Familien noch näher zusammenrücken, oder neue Formen der Solidarität entstehen.“

    Erforschung des globalen sozialen Wandels
    Das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ist eines der weltweit führenden Forschungszentren auf dem Gebiet der Ethnologie (Sozialanthropologie). Es hat seine Arbeit 1999 mit den Gründungsdirektoren Prof. Dr. Chris Hann und Prof. Dr. Günther Schlee aufgenommen und 2001 seinen ständigen Sitz im Advokatenweg 36 bezogen. Mit Ernennung der Direktorin Prof. Dr. Marie-Claire Foblets im Jahre 2012 wurde das Institut um eine Abteilung zum Themenfeld ‚Recht & Ethnologie‘ erweitert. Forschungsleitend ist die vergleichende Untersuchung gegenwärtiger sozialer Wandlungsprozesse. Besonders auf diesem Gebiet leisten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Institutes einen wichtigen Beitrag zur ethnologischen Theoriebildung. Sie befassen sich darüber hinaus in ihren Projekten oft auch mit Fragestellungen und Themen, die im Mittelpunkt aktueller politischer Debatten stehen. Am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung arbeiten gegenwärtig 175 Wissenschaftler aus über 30 Nationen. Darüber hinaus bietet das Institut zahlreichen Gastwissenschaftlern Raum und Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch.

    Zum Programm der Tagung:
    http://www.eth.mpg.de/de/events?url=6444%2Fevent_details_448255452.html

    Mehr Informationen zur Forschergruppe „Financialisation“
    http://www.eth.mpg.de/4081417/financialisation

    Kontakt für diese Pressemitteilung
    Dr. Marek Mikuš
    Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
    Abteilung ‘Resilienz und Transformation in Eurasien’
    Advokatenweg 36, 06114 Halle (Saale)
    Tel.: 0345 2927-252
    Mail: mikus@eth.mpg.de
    http://www.eth.mpg.de/mikus

    Kontakt für die Presse
    Stefan Schwendtner
    Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
    Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
    Advokatenweg 36, 06114 Halle (Saale)
    Tel.: 0345 2927-425
    Mail: schwendtner@eth.mpg.de
    http://www.eth.mpg.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Wirtschaft
    überregional
    Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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