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04.10.2018 17:16

Ein Dorf, ein Tyrann und seine Mörder: Historiker veröffentlicht „Mikrogeschichte der Gewalt“

Franz Kurz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg (IOS)

    Das Attentat ist ausnehmend brutal: 1812 verstümmeln und töten Männer aus dem Dorf Tscheb ihren Grundherrn. Dieser Kriminalfall ist Ausgangspunkt von „Mord an der Donau“, dem neuen Band der geschichtswissenschaftlichen Reihe „Südosteuropäische Arbeiten“. Karl-Peter Krauss schildert darin nicht nur eine einzelne Tat, sondern, so der Untertitel, „Eine Mikrogeschichte der Gewalt“. Denn im Gerichtsverfahren zum Mord zeigt sich, welche Tyrannei der Gutsherr im Ort errichtet hatte. Er erpresste, vergewaltigte, strafte willkürlich. Krauss erläutert diese Vorgeschichte zum Mord aus Sicht der oft vergessenen „kleinen Leute“ und liefert damit ein Werk, das nicht nur für Experten spannend sein dürfte.

    Sie sind in einem Maisfeld versteckt, bewaffnet, das Gesicht mit Ruß geschwärzt. Mehrere Tage lang harren die 14 Männer in dem Hinterhalt aus, bis sie die Kutsche des Grundherrn Leopold von Márffy erspähen. Als das Gespann nahe genug am Feld ist, stürmen die Attentäter hervor. Sie schießen auf Márffy, zerren ihn auf die Straße, sie traktieren ihn mit Beilen, mit Keulen und eisernen Hacken. Eine „unmenschliche Raserei“, wie später in den Gerichtsakten stehen wird. Es ist der 20. September 1812, als der Adelige schließlich, nach einem letzten Stoß, stirbt.

    Dieses Attentat steht zu Beginn der Monographie „Mord an der Donau. Leopold von Márffy und die deutschen Untertanen in Tscheb (1802–1812)“. Das Werk von Karl-Peter Krauss ist der jüngste Band der renommierten Reihe „Südosteuropäische Arbeiten“, herausgegeben vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg (IOS).

    Krauss‘ Arbeit konzentriert sich auf Tscheb, ein von Deutschen besiedeltes Dorf an der mittleren Donau im damaligen Königreich Ungarn (heute Serbien), dessen Grundherr Márffy war und in dessen Nähe sich die Tat ereignete. Die Ermittlungen zum Mord gestalten sich zunächst schwierig, niemand will reden. Erst nach Jahren sind die Täter gefasst: Es sind Márffys eigene Untertanen, praktisch das ganze Dorf hatte sich gegen ihn verschworen, wie sich vor Gericht zeigt. Denn Márffy hatte in den Jahren zuvor Tschebs Bewohner ausgepresst und tyrannisiert. Er übervorteilte Witwen, missbrauchte Dorfbewohnerinnen, ließ zahllose Männer und sogar Schwangere verprügeln – teils mit Todesfolge. Prozesse der Dorfbewohner gegen ihn oder Eingaben bei der Kirche blieben erfolglos. All das war so extrem, dass Kaiser und König Franz I. letztlich einige der Attentäter begnadigte – nach einem Mord an einem Adeligen, wohlgemerkt.

    Indem Autor Krauss all das nachzeichnet, will er mehr als nur einen spektakulären Kriminalfall schildern. „Es geht nicht um Mord und Verschwörung allein“, erläutert er. Vielmehr zeigt er anhand des Falles, wie adelige Selbstverwaltung vor Ort und der frühmoderne, hier habsburgische, Staat in Konflikt standen. Während Letztgenannter in der „Sattelzeit“ um 1800 nach zentraler Verwaltung und übergeordneter Steuerungsinstanz strebte und den Untertanen gewisse Schutzrechte eingeräumt hatte, stand ihm ein selbstbewusster ungarischer Adel entgegen. Und der nutzte allzu gern auch die Rechtsprechungsorgane, um gegen den frühmodernen Staat zu opponieren. Deshalb hatte der gut vernetzte Márffy in den Prozessen gegen sich wenig zu fürchten gehabt. „Für die Untertanen war das eine wenig vorteilhafte Situation“, erläutert Krauss, „sie gerieten in das Scharnier eines Machtkampfes.“

    Dabei durchleuchtet Krauss die Herrschaftsverhältnisse, indem er die „kleinen Leute“ in den Mittelpunkt stellt. Er lässt beispielsweise eine Geliebte Márffys zu Wort kommen, die in einem Brief voll Hass und Selbstbewusstsein mit ihrem eigentlichen Mann abrechnet. Vor allem aber zeichnet er die Lebensgeschichten der Attentäter wie auch ihrer Frauen nach. So ergeben sich tiefe Einblicke in den Alltag des Dorfes. „Der Zugang zu Geschichte über die sogenannten kleinen Leute ist sonst oft versperrt, das ist eine Besonderheit, die das Buch leistet“, betont Konrad Clewing (IOS), Mitherausgeber der Reihe.

    Gleichzeitig verpasst die Monographie der Geschichte der Deutschen in Ungarn einen anderen Akzent. Diese werde in der kollektiven Erinnerungskultur meist rein als ökonomische Erfolgsgeschichte dargestellt, so Krauss: Die Deutschen gelten als anpassungsbereit, die Koexistenz als friedlich. Das Beispiel Tscheb zeige, dass das nicht alles ist. Wie bei anderen Migrationsprozessen kam es eben auch hier zu Brüchen und Konflikten. Und – zumindest im Extremfall – auch zu einem Mord, der mitsamt seiner Vorgeschichte bis heute bewegt.

    Das Buch „Karl-Peter Krauss: Mord an der Donau. Leopold Márffy und die deutschen Untertanen in Tscheb (1802–1812). Eine Mikrogeschichte der Gewalt. Berlin, Boston 2018“ ist in der Reihe „Südosteuropäische Arbeiten“ (Band 160) des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung im Verlag De Gruyter Oldenbourg erschienen und kostet 39,95 Euro.

    Dr. Karl-Peter Krauss ist am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen Leiter des Forschungsbereichs Demographie/Sozialgeographie sowie Lehrbeauftragter am Geographischen Institut der Universität Tübingen.

    Rezensionsexemplare auf Anfrage: presse@ios-regensburg.de

    Kontakt zum Autor und zu den Herausgebern über:

    Franz Kurz
    Öffentlichkeitsarbeit am IOS
    0941/94 354-28
    presse@ios-regensburg.de


    Weitere Informationen:

    https://www.degruyter.com/view/product/511453


    Bilder

    Historiker Karl-Peter Krauss schildert anhand eines Verbrechens den Alltag eines Dorfes im Jahr 1812.
    Historiker Karl-Peter Krauss schildert anhand eines Verbrechens den Alltag eines Dorfes im Jahr 1812 ...
    Foto: Hendrik Gassmann
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    Das Cover von "Mord an der Donau".
    Das Cover von "Mord an der Donau".

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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Geschichte / Archäologie
    überregional
    Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Historiker Karl-Peter Krauss schildert anhand eines Verbrechens den Alltag eines Dorfes im Jahr 1812.


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