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14.07.2020 12:39

hsg-Wissenschaftlerin Heike Köckler fordert für Deutschland ein Monitoring der umweltbezogenen Ungerechtigkeit

Dr. Christiane Krüger Pressestelle
Hochschule für Gesundheit

    In den USA wird – ausgelöst durch die Demonstrationen, die als Reaktion auf den Tod von George Floyd unter Polizeigewalt begannen – hinterfragt, inwiefern Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert werden. Auch in Deutschland wird die Diskriminierungen von Black and People of Colour (BPoC) aktuell diskutiert. Warum es auch in Deutschland wichtig wäre, wissenschaftlich zu untersuchen, inwiefern Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit im Zugang zu Umweltressourcen benachteiligt sind, erläutert Prof. Dr. habil. Heike Köckler von der hsg Bochum im Interview. Sie fordert für Deutschland ein Monitoring zum Thema umweltbezogene Gerechtigkeit.

    Dr. habil. Heike Köckler ist an der Hochschule für Gesundheit (hsg Bochum) Professorin für Sozialraum und Gesundheit.

    Welche konkreten Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und Gesundheit sind in Deutschland bereits erforscht?

    Prof. Dr. habil. Heike Köckler: Wenn wir soziale Ungleichheit und Gesundheit betrachten, gibt es einerseits sehr viel Forschung, die zeigt, dass es soziale Ungleichheit bei Gesundheit in bestimmten Erkrankungsbildern gibt und es gibt Studien, die belegen, dass nicht nur Faktoren wie Einkommen oder Bildung die gesundheitliche Ungleichheit erklären, sondern auch Umweltfaktoren, also Faktoren in meinem Wohnumfeld. Aus diesen Erkenntnissen sollten Handlungsbedarfe abgeleitet werden.

    Ihr Hauptforschungsthema ist umweltbezogene Gerechtigkeit, also ‚environmental justice‘. Welche Themen sind in Deutschland noch nicht hinreichend erforscht?

    Köckler: In Bezug auf umweltbezogene Gerechtigkeit sind wir in Deutschland noch relativ blind in der Frage, inwiefern Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit auch im Zugang zu Umweltressourcen benachteiligt sind. Gibt es in Deutschland auch so etwas wie – im Englischen sagen wir ‚environmental racism‘, was wir in Deutschland nicht einfach mit dem Begriff ‚umweltbezogener Rassismus‘ übersetzen können – eine Benachteiligung von Menschen einer bestimmter ethnischen oder auf ihr Herkunftsland bezogenen Zugehörigkeit? In den Demonstrationen in den USA, die als Reaktion auf die Ermordung von George Floyd unter Polizeigewalt begannen, werden struktureller und Alltags-Rassismus auch jenseits des Wirkens von Polizei thematisiert. Hierzu gehören auch Fragen zu ‚environmental racism‘. Im Rahmen der Diskussion zu umweltbezogener Gerechtigkeit werden Themen benannt, wie zum Beispiel die Benachteiligung aufgrund von Luft- und Lärmbelastung oder durch die Nähe zu Abfallentsorgungsanlagen oder auch durch belastende Wohnverhältnisse. Relativ häufig treffen wir dort Menschen an, die einer ganz bestimmten Gruppe zugeordnet werden können, in den USA sind dies insbesondere Afro- oder Hispano-Amerikaner, also BPoC.

    Und das erforschen wir in Deutschland noch zu wenig?

    Köckler: Genau. Wir sollten hinterfragen, ob diese Ungleichheit insbesondere Menschen betrifft, die einer bestimmten Gruppe angehören und beispielsweise bei der Wahl ihres Wohnstandort, der ganz deutlich Einfluss darauf hat, wie laut oder leise es nachher in meinem Wohnumfeld ist oder welche anderen Belastungsfaktoren vorhanden sind, weniger Wahlmöglichkeiten haben als andere. Es müsste erforscht werden, inwiefern eben die Hautfarbe oder der Nachname eine Rolle bei der Wohnungssuche spielen. Es gibt Methoden, um nachzuweisen, inwieweit es beispielsweise zu einer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt kommt.

    Warum ist das Ruhrgebiet für Sie ein wichtiges Forschungsfeld?

    Köckler: Das Ruhrgebiet ist so spannend, weil es viele dieser Themen vereint. Wir haben in der Metropole Ruhr die Wohnsituation mit einer sehr, sehr hohen Umweltqualität, wie zum Beispiel das Wohnen an der Ruhr mit viel Grün und einem ruhigen Wohngebiet. Wir haben aber auch Wohnsituationen unmittelbar an der Autobahn. Das Ruhrgebiet hat also eine sehr unterschiedliche Umweltsituation mit einer sehr diversen Bevölkerung. Es zeichnet sich durch verschiedene Zuwanderungswellen von Menschen aus, die das Ruhrgebiet zu dem gemacht haben, was es ist. Ursprünglich sind viele Menschen als sogenannte „Gastarbeiter“ gekommen und sind dann mit ihren Familien geblieben. Deshalb ist es eine Region in Deutschland, in der es sehr unterschiedliche Communities gibt, also Menschen mit unterschiedlichen Namen, Hautfarben und Hintergründen. Zudem haben wir noch eine sehr starke soziale Ungleichheit im Ruhrgebiet.

    In Berlin gibt es ein Umweltgerechtigkeitsmonitoring, das auf Daten des Umweltatlas, der Luftreinhalte- und Lärmminderungsplanung sowie des Monitorings Soziale Stadtentwicklung (MSS) für das Land Berlin basiert. Gibt es so etwas für das Ruhrgebiet auch?

    Köckler: Nein, gibt es leider nicht. Wir forschen an diesem Thema und haben ein Indikatoren-Modell entwickelt, in dem wir mit den Indikatoren für die Stadt Mehrfachbelastungen darstellen und auch soziale Ungleichheiten bei gesundheitsrelevanten Faktoren aufzeigen. Wir wünschen uns ein solches Monitoring sehr und haben bereits Analysen für Bochum und Herne durchgeführt. Wir würden dies gern für das ganze Ruhrgebiet aufbereiten und damit auch eine weitere Entscheidungsgrundlage für beispielsweise die Stadt- und Umweltplanung liefern.

    Wenn man einmal so ein funktionierendes Monitoring hat, wäre es dann nicht sinnvoll, es auf ganz Deutschland anzuwenden? Ist das Ihre Vision?

    Köckler: Ja, ist es. In Forschungsanträge schreibe ich immer wieder, dass wir so etwas wie ein ‚environmental justice mapping‘ machen sollten, was in den USA durch die Umweltbehörde umgesetzt wird. Dort wird die umweltbezogene Gerechtigkeit schon viel länger und intensiver verfolgt und es gibt ein Online-Geografisches-Informationssystem, wo jeder frei zugänglich im Internet soziale und Umwelt-Indikatoren miteinander verschneiden und nutzen kann.

    Was bedeutet ‚verschneiden‘ in diesem Zusammenhang?

    Köckler: Verschneiden bedeutet in der räumlichen Datenanalyse, dass verschiedene Daten zum selben Ort gemeinsam betrachtet werden. So kann man sehen, ob in einer Nachbarschaft sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund oder Bezieher*innen von Transferhilfe leben und ob es in dieser Nachbarschaft ruhige Grünflächen zur Naherholung gibt. Jedenfalls hat das Thema ‚Monitoring der umweltbezogenen Gerechtigkeit‘ in Deutschland leider noch keine Mehrheit gefunden. Vielleicht ist die Angst vor zu viel Transparenz zu groß?

    Für Deutschland benötigt man ein eigenes System und kann nicht einfach das amerikanische System auf Deutschland übertragen?

    Köckler: Es ist schon etwas Eigenes entstanden. Das amerikanische System können wir nicht einfach übertragen, weil dort ganz andere Daten erhoben werden als bei uns, also andere Sozial- und Umweltdaten. Von den Berlinern kann man lernen und wir arbeiten auch mit ihnen zusammen, aber das System ist auch nicht eins zu eins übertragbar. Wir würden methodisch ein wenig anders vorgehen, weil wir ein Modell entwickeln, was einfach handhabbar sein soll, damit die Kommunen es gut anwenden können. Wir wollen ein gangbares, einfaches Modell, welches als Entscheidungsgrundlage genutzt werden kann.

    Die mangelnde Beteiligung von Menschen, die von umweltbezogener Ungerechtigkeit betroffen sind, wird ja als eine Ursache dafür gesehen. Daher wird gefordert, dass alle sozialen Gruppen in politischen Entscheidungsprozessen vertreten sind, die die Umweltqualität, in der sie leben, beeinflussen. Deshalb arbeiten Sie im Rahmen Ihrer Forschung an Methoden, die es einfacher machen, sich zu beteiligen. Welche Methoden haben Sie hierzu bereits eingesetzt?

    Köckler: Wir haben zum Beispiel in der Bochumer Lärmminderungsplanung mit einer digitalen Beteiligungsmethode gearbeitet. Diese entwickeln wir an der hsg Bochum in unserem DiPS Lab. DiPS Lab ist die Kurzfassung für ‚Lab für digitale Methoden partizipativer Sozialraumanalyse‘. Um Aussagen im Rahmen der Lärmminderungsplanung machen zu können, haben wir Daten in einer Online-Erhebung, an der die Bochumer Bürger*innen teilnehmen konnten, erfasst, aufbereitet und dem Umweltamt der Stadt Bochum zur Verfügung gestellt. Die aufbereiteten Ergebnisse der Online-Beteiligung haben wir gemeinsam mit dem Umweltamt in aufsuchenden Beteiligungen in den jeweiligen Bochumer Bezirken vorgestellt und haben mit der Methode des ‚WorldCafés‘ mit den Menschen gearbeitet, die vor Ort waren.

    Sie wenden also mehrere Methoden an?

    Köckler: Ja, wir müssen eine Vielfalt an Methodik anwenden, da sich einige Bürger*innen lieber online beteiligen und andere lieber durch das Gespräch. Wir freuen uns über gute Beteiligungszahlen und eine sehr gute Zusammenarbeit mit dem Umweltamt (https://www.bochum.de/Pressemeldungen/7-Mai-2019/Erste-Ergebnisse-aus-der-Online...). Es ist für uns nun spannend, zu sehen, inwiefern eine sehr strukturierte Befragung Eingang in den Planungsprozess einer Stadt findet. Zudem gibt es Forschungsansätze, in denen wir die digitale Methode mit einer ethnographischen Methode zusammenbringen. Es gibt also bereits einige Erkenntnisse und erste Lösungsansätze, die wir konkret in die aktuelle Debatte einbinden können. Gleichzeitig gibt es noch eine Vielzahl von Fragen, die es in diesem für Deutschland noch jungen Themenfeld auszuformulieren und zu beantworten gilt. Die aktuelle Debatte könnte hier die erforderliche Aufmerksamkeit nach sich ziehen.

    Das komplette Interview ist im hsg-magazin nachzulesen: https://magazin.hs-gesundheit.de/wissen-austauschen/die-umweltbezogene-ungerecht...

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    Über die Hochschule für Gesundheit in Bochum:
    Die hsg Bochum wurde Ende 2009 als bundesweit erste und bisher einzige staatliche Hochschule für Gesundheitsberufe gegründet. Im Angebot hat die hsg Bochum unterschiedliche Bachelor- und Master-Studiengänge des Themenfeldes Gesundheit. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Akademisierung von Gesundheitsberufen sowie zur Verbesserung von Versorgungsstrukturen. Die Hochschule bietet innovative Konzepte, verschiedene Lernorte, frühe Vernetzung mit externen Praxispartnern und eine intensive Studienlaufbahnbegleitung. Im Sommer 2015 zog sie in ihren Neubau auf dem Gesundheitscampus Nordrhein-Westfalen in Bochum. Sie zählt etwa 250 Beschäftigte und rund 1.600 Studierende (Stand: Oktober 2019).


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. habil. Heike Köckler, Gesundheitscampus 6‒8, 44801 Bochum, E-Mail: heike.koeckler(at)hs-gesundheit.de


    Bilder

    Prof. Dr. habil. Heike Köckler von der hsg Bochum fordert ein Monitoring der umweltbezogenen Ungerechtigkeit in Deutschland.
    Prof. Dr. habil. Heike Köckler von der hsg Bochum fordert ein Monitoring der umweltbezogenen Ungerec ...

    Foto: hsg Bochum


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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