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16.07.2020 13:07

Ein „Gefühl“ für Demenz? Neue Erkenntnisse über subjektiv empfundene Gedächtnisprobleme

Dr. Marcus Neitzert Stabsstelle Kommunikation
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE)

    Ein Forschungsteam unter Federführung des DZNE kommt zu dem Schluss, dass die persönliche Wahrnehmung ein wichtiges Indiz sein kann, um eine Alzheimer-Erkrankung frühzeitig zu bemerken. In einer aktuellen Studie mit 449 älteren Erwachsenen, die in Neurology®, dem Medizinjournal der Amerikanischen Akademie für Neurologie erschienen ist, berichten die Forschenden, dass Personen mit subjektiv empfundenen Gedächtnisstörungen im Durchschnitt auch mehr messbare, kognitive Defizite aufwiesen. Diese Defizite hingen auch mit Auffälligkeiten im Nervenwasser zusammen. Von diesen Erkenntnissen könnten Früherkennung und Therapie-Entwicklung profitieren.

    Wenn das Gedächtnis nach eigenem Empfinden nachlässt, die geistige Leistungsfähigkeit – nach objektiven Kriterien - jedoch noch im Normbereich liegt, dann sprechen Fachleute von „subjektiven kognitiven Beeinträchtigungen“ oder „subjective cognitive decline“ (SCD). „Menschen mit SCD haben ein erhöhtes Risiko, langfristig eine Demenz zu entwickeln. Allerdings weiß man noch wenig über die Mechanismen, die subjektiven Gedächtnisstörungen zugrunde liegen“, sagt Prof. Michael Wagner, Arbeitsgruppenleiter am DZNE und Leitender Psychologe der Gedächtnisambulanz des Universitätsklinikums Bonn. „Die Effekte sind subtil und bisherige Studien haben relativ kleine Personengruppen eingeschlossen, was statistisch belastbare Aussagen schwierig macht. Deshalb haben wir nun die nach unserem Wissen bislang größte Stichprobe von Personen untersucht.“

    Bundesweite Studie

    An den Untersuchungen unter Koordination des DZNE war ein Verbund deutscher Universitäten und Universitätskliniken beteiligt. Insgesamt 449 Frauen und Männern – der Altersdurchschnitt betrug rund 70 Jahre – nahmen an der Studie teil. Ein Teil dieser Gruppe (240 Personen) wurde über die sogenannten Gedächtnisambulanzen der teilnehmenden Universitätskliniken eingeschlossen. Diese Personen hatten diese Ambulanzen zur diagnostischen Abklärung anhaltender subjektiver kognitiver Beschwerden aufgesucht. Dies geschah meist nach ärztlicher Überweisung. Bei den üblichen Tests waren sie jedoch als kognitiv unauffällig eingestuft worden, es bestand also lediglich SCD. Die übrigen 209 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie wurden aufgrund von Befragungen und der gleichen kognitiven Tests als kognitiv gesund eingestuft. Sie hatten sich aufgrund von Zeitungsanzeigen zur Studienteilnahme entschlossen.

    „Wir konnten nachweisen, dass jene Menschen, die sich aufgrund von SCD an eine Gedächtnisambulanz wendeten, messbare, wenngleich nur mäßig ausgeprägte kognitive Defizite aufwiesen“, erläutert Dr. Steffen Wolfsgruber, Erstautor der aktuellen Veröffentlichung. Die Befunde beruhen auf einer umfangreichen Testung, auf einer verfeinerten Datenauswertung und auf der verhältnismäßig großen Anzahl untersuchter Personen. „Damit wurde die Messempfindlichkeit entscheidend verbessert. So fanden wir heraus, dass Studienteilnehmer, die als gesund galten, im Allgemeinen bessere Ergebnisse bei der geistigen Leistungsfähigkeit erzielten als die Patienten der Gedächtnisambulanzen mit SCD. Diese Unterschiede sind mit Standardverfahren der Analyse und bei kleinen Probandengruppen kaum erkennbar. Erst recht nicht auf individueller Ebene. Man benötigt auf jeden Fall einen großen Datensatz.“

    Umfangreiche Testreihe

    Die Frauen und Männer, die an der Studie teilnahmen, unterzogen sich diversen Tests der geistigen Fähigkeiten. Dabei ging es neben der Gedächtnisleistung auch um Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen in verschiedenen Situationen, etwa unter Zeitdruck. Geprüft wurden unter anderem auch das Sprachvermögen und die Fähigkeit, Objekte zu erkennen und korrekt zu benennen.

    Überdies wurde von 180 Probanden – 104 davon mit SCD – das „Nervenwasser“ analysiert. Diese Flüssigkeit kommt im Gehirn und Rückenmark vor. Erfasst wurde die Konzentration bestimmter Eiweißstoffe, namentlich ging es um sogenannte Amyloid-Beta-Peptide und Tau-Proteine. „Diese Biomarker-Messwerte ermöglichen Rückschlüsse auf etwaige Nervenschädigungen und Vorgänge, die mit einer Alzheimer-Erkrankung einhergehen“, so Wolfsgruber.

    „Wir haben festgestellt, dass bei unseren Probanden mit SCD im Mittel leichte kognitive Defizite vorliegen und dass diese mit jenen Eiweißstoffen zusammenhängen, die auf eine frühe Alzheimer-Erkrankung hindeuten. Daher nehmen wir an, dass sowohl die subjektiven Beschwerden, als auch die minimalen objektiven kognitiven Defizite auf Alzheimer-Prozesse zurückzuführen sind. Das ist nicht selbstverständlich, denn für Gedächtnisstörungen gibt es viele Ursachen“, meint Studienleiter Michael Wagner. „Es wichtig zu betonen, dass diese Personen aufgrund ihrer Beschwerden eine Gedächtnisambulanz aufgesucht hatten, oder an eine solche überwiesen wurden. Die Befunde lassen sich daher nicht verallgemeinern, denn viele ältere Menschen haben zeitweilig subjektive Gedächtnisstörungen, ohne dass eine frühe Alzheimer-Erkrankung vorliegt.“

    Frühzeitige Behandlung

    Die nun veröffentlichten Ergebnisse beruhen auf Daten der sogenannten DELCODE Studie des DZNE, welche die frühe Phase der Alzheimer-Erkrankung untersucht – jenem Zeitraum, bevor ausgeprägte Symptome auftreten. Im Rahmen von DELCODE, wird die geistige Entwicklung von insgesamt etwa 1000 Probanden über mehrere Jahre verfolgt. „Dabei wird sich zeigen, wer tatsächlich eine Demenz entwickelt und wie gut sich anhand von SCD das Demenzrisiko im Voraus abschätzen lässt. Daten dazu werden derzeit noch gesammelt und ausgewertet“, so Wagner. „Unsere aktuellen Ergebnisse stützen jedenfalls die These, dass SCD dazu beitragen kann, eine Alzheimer-Erkrankung frühzeitig zu erkennen. Allerdings kann SCD sicherlich nur einen Teil des Gesamtbildes liefern, das für eine Diagnose nötig ist. Man wird auch Biomarker berücksichtigen müssen.“

    Die aktuellen Befunde könnten überdies für die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden von Nutzen sein. „Aktuelle Therapien gegen Alzheimer setzen zu spät an. Dann ist das Gehirn schon stark geschädigt. Ein besseres Verständnis der SCD könnte die Grundlage für eine frühere Behandlung schaffen. Für die Erprobung von Therapien, die bereits im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung wirken sollen, muss man Personen mit erhöhtem Krankheitsrisiko identifizieren. Dafür könnte SCD ein wichtiges Kriterium sein“, sagt Wagner.

    Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE)
    Das DZNE erforscht sämtliche Aspekte neurodegenerativer Erkrankungen (wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und ALS), um neue Ansätze der Prävention, Therapie und Patientenversorgung zu entwickeln. Durch seine zehn Standorte bündelt es bundesweite Expertise innerhalb einer Forschungsorganisation. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene. Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft. Web: https://www.dzne.de

    Über die DELCODE-Studie
    DELCODE (Das Kürzel steht für „DZNE - Longitudinale Studie zu Kognitiven Beeinträchtigungen und Demenz“) ist eine standortübergreifende, klinische Studie des DZNE, welche die frühe Phase der Alzheimer-Erkrankung untersucht. Im Rahmen der Studie wird die geistige Entwicklung von insgesamt etwa 1000 Probanden über mehrere Jahre verfolgt. Studienleiter sind Prof. Frank Jessen (Köln) und Prof. Emrah Düzel (Magdeburg). Web:https://www.dzne.de/forschung/studien/klinische-studien/delcode


    Originalpublikation:

    Minor neuropsychological deficits in patients with subjective cognitive decline, Steffen Wolfsgruber et al., Neurology®, the medical journal of the American Academy of Neurology (2020), DOI: 10.1212/WNL.0000000000010142; URL: https://n.neurology.org/content/early/2020/07/07/WNL.0000000000010142


    Weitere Informationen:

    https://www.dzne.de/en/news/press-releases/press/a-feeling-for-dementia Englische Fassung


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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