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31.07.2020 11:00

Glücklose „Glückspille“: Fluoxetin führte nicht zur Verbesserung funktioneller Fähigkeiten nach Schlaganfall

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Gleich zwei große randomisierte, placebokontrollierte Studien [1, 2] kamen zum gleichen Ergebnis: Fluoxetin (besser bekannt als „Prozac“) konnte nicht zur Verbesserung funktioneller Fähigkeiten nach einem Schlaganfall beitragen, führte aber zu mehr Nebenwirkungen. Vor diesem Hintergrund betonen Experten der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) die nach wie vor große Bedeutung der Frührehabilitation nach einem Schlaganfall. In diesem Bereich müsse weiter geforscht und investiert werden.

    Fluoxetin ist ein sogenannter selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, der eigentlich zur Behandlung von Depressionen eingesetzt wird. 2011 hatte eine randomisierte französische Studie [3] an über 100 Patienten mit schwerer halbseitiger Lähmung gezeigt, dass die Substanz womöglich die motorische Erholung von Schlaganfall-Patienten verbessern könne: Die Patienten der Verumgruppe gaben an, beweglicher und damit auch eigenständiger zu sein. Fluoxetin, bekannt unter dem Handelsnamen „Prozac“, hat eine motivationsfördernde Wirkung und wird weltweit auch als „Leistungs-Enhancer“ missbraucht. Dennoch führten die französischen Forscher den Effekt auf die Schlaganfallpatienten nicht allein auf das leistungssteigernde „Doping-Potenzial“ des Medikaments zurück, sondern verwiesen auf Studien, wonach Fluoxetin unter anderem die Entzündungsreaktion nach einer Durchblutungsstörung des Gehirns begrenzen kann und die Entstehung neuer Nervenzellen anrege [4]. Demnach könne Fluoxetin die Reparatur neurologischer Schäden im Gehirn fördern.

    Diese Hypothese überprüften nun zwei große randomisierte, placebokontrollierte Studien – eine wurde in Schweden durchgeführt, die andere in Australien, Neuseeland und Vietnam. Beiden kamen zu dem gleichen Ergebnis und zeigten, dass Fluoxetin nicht zur Verbesserung funktioneller Fähigkeiten nach einem Schlaganfall beiträgt.

    Die schwedische „The Efficacy oF Fluoxetine—a randomisEd Controlled Trial in Stroke” (EFFECTS)-Studie [1] untersuchte die Wirkung der sechsmonatigen Gabe von Fluoxetin (20 mg täglich) auf das funktionelle Outcome nach einem Schlaganfall bei insgesamt 1500 Patienten. Der funktionelle Status wurde mittels modifizierter Rankin-Skala (mRS) erfasst. Im Ergebnis zeigte sich kein Unterschied im primären Endpunkt, in der Verumgruppe war lediglich die Inzidenz von Depressionen niedriger (p=0,0015), allerdings wurden unter der Studiensubstanz mehr Knochenbrüche (28 vs. 11) und Hyponatriämien (11 vs.1) beobachtet.

    Die „Assessment oF FluoxetINe In sTroke recovery” (AFFINITY)-Studie, die in Australien, Neuseeland und Vietnam durchgeführt wurde, untersuchte den gleichen Endpunkt an 1280 Patienten unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Auch hier ergab die Analyse des funktionellen Status mittels modifizierter Rankin-Skala (mRS) keinen Vorteil durch Fluoxetin, der Unterschied zwischen den Gruppen war nicht signifikant. Stattdessen kam es aber auch hier zu mehr Knochenbrüchen in der Verumgruppe (19 vs. 6), außerdem zu mehr Stürzen (20 vs. 7) und häufigeren epileptischen Anfällen (10 vs. 2).

    „Die Ergebnisse beider Studien sind sehr konsistent. Beide zeigten keine Wirkung, aber ein ähnliches Nebenwirkungsprofil. Die Frakturrate war um den Faktor 2,5-3 erhöht, was bedenklich ist, wenn man weiß, dass Frakturen bei älteren Menschen mit einer hohen Morbidität und Mortalität verbunden sind. In der schwedischen Studie war die Hyponatriämie um den Faktor 10 erhöht, in der ozeanischen die Inzidenz von epileptischen Anfällen um den Faktor 5. Auch das korrespondiert gut, denn die Hyponatriämie ist ein bekannter Risikofaktor für epileptische Anfälle. Unterm Strich schadet die Gabe von Fluoxetin bei Schlaganfallpatienten also mehr als sie nützt“, interpretiert Professor Dr. Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN, die vorliegenden Studiendaten.

    „Die Verbesserung der Regeneration nach einem Schlaganfall stellt eines der aktuell wichtigsten therapeutischen Ziele in der Schlaganfallbehandlung dar. So gesehen ist es enttäuschend, dass beide Studien negative Ergebnisse erbrachten. Allerdings ist zu bedenken, dass in beiden Studien breite Einschlusskriterien und grobgerasterte Endpunkte gewählt wurden. Zielführend wäre es schon eher fokussierte Studien an spezifischen Schlaganfallkollektiven durchzuführen, in denen die Verbesserung des funktionellen Defizites bezogen auf einzelne sensomotorische oder kognitive Funktionen klar definiert wird“, erklärt Professor Dr. Wolf-Rüdiger Schäbitz, Pressesprecher der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG). „Im Bereich der Schlaganfallrehabilitation muss weiter geforscht und investiert werden. Nur so können erfolgversprechende Konzepte zur Verbesserung funktioneller Fähigkeiten nach Schlaganfällen wie medikamentöse Therapien, Stimulationsverfahren oder Verfahren der virtuellen Realität den Durchbruch schaffen.“

    Literatur
    [1] EFFECTS Trial Collaboration. Safety and efficacy of fluoxetine on functional recovery after acute stroke (EFFECTS): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2020; 19: 661–69
    DOI: https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30219-2
    [2] AFFINITY Trial Collaboration. Safety and efficacy of fluoxetine on functional outcome after acute stroke (AFFINITY): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2020; 19: 651–60.
    DOI: https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30207-6
    [3] Chollet F et al. Fluoxetine for motor recovery after acute ischaemic stroke (FLAME): a randomised placebo-controlled trial. Lancet Neurol. 2011 Feb;10(2):123-30.
    [4] „Antidepressivum verbessert die Rehabilitation nach Schlaganfall.“ Pressemeldung der DGN vom 8. März 2011.

    Pressekontakte

    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    Dr. Bettina Albers
    c/o albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Pressestelle der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG)
    Friederike Gehlenborg
    Tel.: +49 (0)711 8931295, Fax: +49 (0)711 8931167
    E-Mail: gehlenborg@medizinkommunikation.org
    www.dsg-info.de

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Past-Präsident: Prof. Dr. Gereon R. Fink
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org

    Die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG)
    Die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) wurde im Dezember 2001 gegründet. Ziel der Gesellschaft ist es, die Forschung und Weiterbildung im Bereich des Schlaganfalls zu koordinieren, zu qualifizieren und zu fördern. Gewünscht ist auch eine politische Einflussnahme, um der Erkrankung „Schlaganfall" eine angemessene Bedeutung zu geben. Mit ihren Aktivitäten spricht die DSG alle Ärzte und Leistungserbringer im Gesundheitswesen an, die in die Versorgung von Schlaganfall-Patienten eingebunden sind.


    Originalpublikation:

    https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30219-2
    https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30207-6


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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