Der Index Menschlicher Entwicklung der UN liefert neue Erklärungsansätze für den Erfolg von Europas ersten Großsiedlungen.
Scherben von Keramikgefäßen, Spuren von Hausgrundrissen, ein paar Knochen – archäologische Grabungen bringen vor allem die Reste materieller Kultur zutage. Um daraus Rückschlüsse auf soziale Verhältnisse oder das Denken und Fühlen von Menschen in der Vergangenheit zu ziehen, bedarf es zahlreicher Hilfsmittel. Dazu gehören auch philosophische Konzepte. Diese kamen bislang aber eher in archäologischen Grundsatzdebatten zur Anwendung, kaum in der Analyse von konkreten Funden und Befunden.
Zwei Archäologen und ein Philosoph des Exzellenzclusters ROOTS an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stellen jetzt in der internationalen Fachzeitschrift Open Archaeology eine Möglichkeit vor, wie mit Hilfe des sogenannten „Capability Approach“ Fragen zu Identität und sozialer Organisation direkt an archäologischen Daten untersucht werden können. Als Fallstudie dienen den Autoren die ersten Großsiedlungen Europas vor 7000 bis 5000 Jahren. „Letztendlich konnten wir erstmals archäologische Kategorien mit denen des Human Development Index der Vereinten Nationen in Beziehung setzen. Der vorgestellte Ansatz ermöglicht also auch Verknüpfungen zwischen ferner Vergangenheit und Gegenwart“, sagt Dr. Vesa Arponen, einer der drei Autoren.
Human Development Index auf archäologische Befunde anwenden
Der „Capability Approach“ ist ein philosophisches Konzept, das auf die Arbeiten des indischen Philosophen und Ökonomen Amartya Sen in den 1970er und 1980er Jahren zurückgeht. „Der Ansatz geht davon aus, dass sich menschliches Wohlergehen nicht nur an materiellem Besitz misst, sondern auch an anderen Mitteln, die Handeln ermöglichen und erleichtern, sowie den Fähigkeiten, ein aktives Leben zu führen. Es geht um die Chancen von Gruppen und Individuen, sich zu verwirklichen“, erklärt Dr. Arponen.
Dieses Konzept des menschlichen Wohlergehens dient heute als theoretische Grundlage für den Index der Menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) der Vereinten Nationen. Die Anwendung auf menschliche Gemeinschaften in der fernen Vergangenheit stößt allerdings auf eine große Herausforderung. „Wie können wir die statischen Reste materieller Kultur nutzen, um Dimensionen der dahinter stehenden dynamischen Aktivität zu rekonstruieren?“, bringt Co-Autor Dr. René Ohlrau diese Herausforderung auf den Punkt.
Bis zu 7000 Jahre alte Großsiedlungen als Fallbeispiele
Um sie zu meistern, haben die Autoren zunächst die Dimensionen und Analyseebenen des Human Development Index mit archäologischen Indikatoren in Beziehung gesetzt. „Eine dieser Kategorien ist zum Beispiel der Lebensstandard, der sich auf gesellschaftlicher Ebene auch an der Innovationsfähigkeit zeigt. Technische Innovationen sind etwas, das wir im archäologischen Fundgut nachvollziehen können, zum Beispiel wenn eine bestimmte Form des Pflugs oder neue Webstühle im Fundgut erscheinen“, erklärt Co-Autor Prof. Dr. Tim Kerig.
In einem zweiten Schritt wandten die Autoren das neu entwickelte Schema auf die Cucuteni-Trypillia-Gesellschaften (ca. 5050-2950 v. u. Z.) im heutigen Rumänien, in der Republik Moldau und in der Ukraine an. Sie sind bekannt für große, ringförmige Siedlungen, die sich über bis zu 320 Hektar erstreckten und in denen bis zu 17.000 Menschen lebten.
„Die Anwendung unseres Analyse-Werkzeugs bestätigt bisherige Studien, dass diese Siedlungen in ihrer Blütephase von großer sozialer Gleichheit geprägt waren und die Menschen umfangreiche Möglichkeiten hatten, selbst aktiv zu sein“, sagt Dr. Arponen, „allerdings deuten unsere Ergebnisse auf andere Erklärungen dafür als bisher“.
Bislang wurden oft Klimawandel oder Bevölkerungswachstum als Auslöser gesehen, auf die Menschen mit Neuerungen in Politik und Technik reagierten.
„Unser Analyseansatz eröffnet die Möglichkeit, die Entwicklungen in den Cucuteni-Trypillia-Gesellschaften andersherum zu deuten. Es könnten eher die erweiterten Möglichkeiten der Menschen, ihre Chance auf Verwirklichung, gewesen sein, die weitere Menschen anzogen, was zu Bevölkerungswachstum und Innovationen führte“, fasst Dr. Arponen zusammen.
In Zukunft soll der Ansatz auch auf andere Gesellschaften der Vergangenheit und in anderen archäologischen Kontexten angewendet werden. „Er bietet auf jeden Fall die Chance, althergebrachte Erklärungsmuster in der Archäologie zu hinterfragen und neue Diskussionen zur Interpretation der Funde anzuregen“, ist Dr. Arponen überzeugt.
Dr. Vesa Arponen
Exzellenzcluster ROOTS
Tel.: +49 431 880-5472
varponen@roots.uni-kiel.de
Dr. René Ohlrau
Exzellenzcluster ROOTS
Tel.: +49-431-880-6709
rohlrau@roots.uni-kiel.de
Prof. Dr. Tim Kerig
Exzellenzcluster ROOTS
Tel.: +49 431 880 6583
tkerig@roots.uni-kiel.de
Arponen, V., Ohlrau, R. & Kerig, T. (2024). The Capability Approach and Archaeological Interpretation of Transformations: On the Role of Philosophy for Archaeology. Open Archaeology, 10(1), 20240013. https://doi.org/10.1515/opar-2024-0013
http://www.cluster-roots.org Der Exzellenzcluster ROOTS
Rekonstruktionszeichnung einer Versammlungsszene in einer Cucuteni-Trypillia-Siedlung. Diese Siedlun ...
Susanne Beyer
Uni Kiel
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Philosophie / Ethik
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
Rekonstruktionszeichnung einer Versammlungsszene in einer Cucuteni-Trypillia-Siedlung. Diese Siedlun ...
Susanne Beyer
Uni Kiel
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