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01/28/2019 15:58

Selbstmord durch Pille – das ist falsch

Luise Dusatko Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V.

    Pressemitteilung des Berufsverbandes der Frauenärzte e.V. (BVF) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) vereint im German Board and College of Obstetrics and Gynecology (GBCOG)

    Soeben hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM einen Warnhinweis herausgebracht, dass die Verwendung hormoneller Verhütungsmittel die Selbstmordgefahr erhöhen könnte (1). Das Institut stützt sich auf einen Warnhinweis der Europäischen Arzneimittelagentur EMA (2) und diese wiederum auf zwei dänische Kohortenstudien aus dem Jahr 2016 (3) und 2017 (4).

    „Diese dänischen Studien haben so erhebliche methodische Fehler, dass sie wertlos sind“, erläutern Dr. med. Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte und Prof. Dr. med. Anton Scharl, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, gemeinsam Präsidenten des German Board and College of Obstetrics and Gynecology (GBCOG).

    Hier die wesentlichen Kritikpunkte:

    1. Auswertung nur aus den Bevölkerungsregistern

    Es wurden lediglich die Daten aus den dänischen Bevölkerungs- und Gesundheitsregistern verwendet. Es wurden keine ärztlichen Diagnosen in die Studie mit einbezogen. In diesen Studien wurde festgestellt, dass Mädchen und Frauen, die aktuell hormonell verhüteten, häufiger Antidepressiva bekamen (2,2% gegenüber 1,7%) als Mädchen und Frauen ohne hormonelle Verhütung und dass in dieser Gruppe häufiger Selbstmordversuche (0,15% gegenüber 0,18%) und Selbstmorde (0,0006% gegenüber 0,0019% pro Jahr) auftraten.

    2. Vergleich hormonelle Verhütung versus keine hormonelle Verhütung unvollständig

    Junge Mädchen und Frauen, die hormonell verhüten, sind in der überwiegenden Zahl sexuell aktiv. Man kann davon ausgehen, dass junge Mädchen und Frauen, die nicht hormonell verhüten, in weit geringerem Maß sexuell aktiv sind. Im Grunde genommen wurde also in beiden dänischen Studien ein Vergleich gezogen zwischen sexuell aktiven und sexuell nicht aktiven Mädchen und Frauen und zwar mit völlig unklaren Überschneidungen.

    3. Arztkontakte – wer, wann, wie oft?

    Hormonelle Verhütungsmittel sind verschreibungspflichtig. Es sind deshalb regelmäßige Arztbesuche notwendig zur Verordnung und für Kontroll-Untersuchungen. Von den Mädchen und Frauen in den dänischen Studien, die keine hormonellen Verhütungsmittel verwendeten, ist unbekannt, ob und wie häufig sie einen Arzt aufsuchten. Bei regelmäßigen Arztbesuchen können auch weitere Diagnosen gestellt werden, von Bluthochdruck bis Depression. Bleiben Arztbesuche aus, werden diese Erkrankungen später oder gar nicht diagnostiziert.
    In der Studie zur Depressivität wurden also junge Mädchen und Frauen mit gesicherten, regelmäßigen Arztkontakten verglichen mit solchen, bei denen nichts über mögliche Arztbesuche bekannt war.

    4. Depressionen und Suizidalität von der Hormontyp und -dosis unabhängig

    Wenn die Einwirkung der Hormone aus den Verhütungsmitteln eine depressive Symptomatik verstärken würde, dann müssten bei Mädchen und Frauen, die Arzneimittel mit einer höheren Dosierung erhalten, häufiger Depressionen zu sehen sein. Das ist nicht der Fall. Die Verordnung von Antidepressiva ist völlig unabhängig von der Hormondosis, die in den Verhütungsmitteln verwendet wurde.
    Zudem haben unterschiedliche Östrogene und Gestagene auf die Psyche sehr unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Wirkungen. Was das Selbstmordrisiko angeht, so wäre zu erwarten, dass Verhütungsmittel, von denen ein stärkerer Einfluss auf die Stimmung bekannt ist, zu einem höheren Suizidrisiko führen. Das ist nicht der Fall. Die Erhöhung des der Selbstmordgefahr ist unabhängig davon, welche Hormondosierungen, welche Östrogen- und Gestagentypen verwendet wurden.
    Alle diese Faktoren sprechen dafür, dass es sich lediglich um einen zeitlichen Zusammenhang zwischen hormoneller Verhütung, Verordnung von Antidepressiva bzw. Suizidalität handelt, dass aber keine ursächlichen Zusammenhänge bestehen.

    5. Depressivität – zu selten diagnostiziert

    Depressionen treten bei Jugendlichen und jungen Frauen in einer Häufigkeit von über 10% auf, wie eine sehr sorgfältige Studie des Robert-Koch-Instituts gezeigt hat (5). Aber sie können nur diagnostiziert und behandelt werden, wenn sich die Erkrankten bei einem Arzt vorstellen. Da der Krankheitswert der Depression oft gar nicht von den Betroffenen selbst erkannt wird, wird die Diagnose häufig anlässlich eines Arztkontaktes aus einem anderen Grund gestellt. In der dänischen Studie von 2016 nahmen 2,2% der Frauen, die hormonell verhüteten, Antidepressiva ein, dagegen nur 1,7% derer, die nicht hormonell verhüteten. Auch wenn die Verordnung eines Antidepressivums nicht bei allen depressiven Erkrankungen indiziert ist, kann man aus diesen Zahlen vermuten, dass bei Frauen, die sich nicht bei einem Arzt vorstellen, bei Weitem zu selten die Diagnose „Depressive Erkrankung“ gestellt wird.

    6. Sexuelle Aktivität – explodierende Gefühle

    Zu sexueller Aktivität gehören Leidenschaft, Verliebtheit und Liebe, aber auch Kränkung, Verlassenwerden, Eifersucht, Gewalt, ebenso wie Konflikte mit den Erziehungsberechtigten. Der Beginn der sexuell aktiven Zeit ist als wesentlicher Auslöser für depressive Episoden bekannt.
    Beide Studien ignorieren, dass die Verwendung hormoneller Verhütungsmittel einen grundlegenden biographischen Einschnitt für junge Mädchen und Frauen darstellt und vielfach den Beginn eines konfliktreichen Lebensabschnitts markiert.

    7. Selbstmord – Pille oder Gewalt?

    Bei Jugendlichen, die einen Suizidversuch unternehmen, ist fast immer eine Krisensituation vorausgegangen. Häufig werden Trennungen der Eltern, Drogen- und Alkoholkonsum, Gewalt und sexueller Missbrauch als auslösendes Ereignis angegeben (6).
    Die dänische Studie aus 2017 ist nicht in der Lage, zwischen Krisensituationen im Zusammenhang mit Partnerschaften und sexueller Aktivität einerseits und hormoneller Verhütung andererseits zu unterscheiden.

    Fazit

    „Die Zahlen aus den beiden dänischen Studien beschreiben einen zeitlichen Zusammenhang, aber mehr auch nicht“, erläutert Dr. med. Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. „Um die Frage zu beantworten, ob ein Arzneimittel bestimmte Nebenwirkungen hervorruft, und um dabei zufällige Zusammenhänge auszuschließen, muss man aufwendige, am besten doppelblinde Studien durchführen, bei der weder Arzt noch Studienteilnehmer wissen, ob sie ein Plazebo oder das Arzneimittel bekommen“, erläutert Prof. Dr. med. Anton Scharl, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. In solchen Studien, die es auch für hormonelle Verhütungsmittel durchaus gibt, wurden bisher widersprüchliche Ergebnisse gefunden, sowohl positive als auch negative Veränderungen. Es konnte aber auch gezeigt werden, dass sich vor allem Frauen, bei denen bereits vor der Behandlung eine depressive Verstimmung oder ein starkes prämenstruelles Syndrom vorhanden war, die psychischen Symptome verstärken konnten – andererseits aber kann eine geeignete hormonelle Verhütung bei schwerem prämenstruellem Dysphorie-Syndrom auch hilfreich sein.

    „Es gibt sehr unterschiedliche hormonelle Verhütungsmittel mit Wirkstoffen, die sehr unterschiedlich auf die Psyche wirken können“, wie Prof. Dr. med. Diethelm Wallwiener, Sprecher des GBCOG, zusammenfassend betont. Wenn ein Mädchen oder eine Frau unter einer bestimmten Art der Verhütung Stimmungsveränderungen beobachtet, dann sollte sie das mit ihrer Frauenärztin oder ihrem Frauenarzt besprechen, sodass eine andere, möglichst ebenso zuverlässige Verhütung gefunden werden kann. _______________________________________________________________________________
    QUELLEN:

    (1) Bundesinstitut für Arzneimittel, Rote-Hand-Briefe. 21.01.2019 https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2019...

    (2) European Medicines Agency, Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) 01.-04.10.2018 https://www.ema.europa.eu/documents/prac-recommendation/prac-recommendations-sig... S. 6

    (3) Skovlund, CW, Mørch LS, Kessing LV, Lidegaard Ø. Association of Hormonal Contraception With Depression. JAMA Psychiatry. 2016;73(11):1154-1162. doi:10.1001/jamapsychiatry.2016.2387 https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/fullarticle/2552796

    (4) Skovlund CW, Mørch LS, Kessing LV, Lange T, Lidegaard Ø. Association of Hormonal Contraception With Suicide Attempts and Suicides. Am J Psychiatry. 2018 Apr 1;175(4):336-342. doi: 10.1176/appi.ajp.2017.17060616. Epub 2017 Nov 17. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29145752

    (5) Robert-Koch-Institut zum Weltgesundheitstag 2017: Daten und Fakten zu Depressionen https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung...

    (6) AWMF, S2K-Leitlinie Suizidalität im Kindes- und Jugendalter, Dt. Ges. f. Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-031l_S2k_Suizidalitaet_KiJu_201...


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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Medicine, Social studies
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Transfer of Science or Research
    German


     

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