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11.05.2011 14:17

Zensus 2011: „Ein erweiterter Fragenkatalog wäre sinnvoll gewesen“

Barbara Abrell Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.

    Seit dem 9. Mai schwärmen die Zähler des Statistischen Bundesamtes aus, in Deutschland gibt es seit Langem wieder einen Zensus. Die letzte vollständige Volkszählung fand in Westdeutschland 1987 und in der DDR 1981 statt. Wie wichtig ist eine regelmäßige Zählung? Ein Gespräch mit Michaela Kreyenfeld, Forscherin am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock.

    Die Meinungen darüber, ob ein Zensus nötig ist, gehen in Deutschland auseinander. Brauchen wir die Volkszählung wirklich?

    Kreyenfeld: Unbedingt. In der Öffentlichkeit gibt es eine falsche Vorstellung davon, was an Daten verfügbar ist. Viele glauben: Ach, die wissen doch sowieso alles über mich. Tatsächlich weiß das Statistische Bundesamt noch nicht einmal genau, wie viele Menschen in Deutschland leben.

    Die amtlichen Bevölkerungsdaten sind also momentan mangelhaft?

    Kreyenfeld: Ja. Nicht nur Angaben wie Einwohnerzahlen, die direkt an Politik und Verwaltung gehen, sind unzuverlässig. Auch die Wissenschaft hat keine verlässlichen Daten, um Politik zu beraten und ihr Entscheidungsgrundlagen zu geben. Dazu braucht sie regelmäßige, hochwertige Zensen.

    Wieso sind die Zahlen nicht gut genug?

    Kreyenfeld: Die letzten Volkszählungen sind in Deutschland ein Vierteljahrhundert her. Seitdem hat sich die Qualität der Bevölkerungszahlen immer weiter verschlechtert. Denn der Bevölkerungsbestand wird lediglich „fortgeschrieben“, also fortlaufend korrigiert anhand der Neugeborenen, der Verstorbenen, der Zu- und der Fortzüge. Weil gerade die Zu- und Fortzüge nicht genau erfasst werden können, werden die fortgeschriebenen Daten umso ungenauer je länger der letzte Zensus zurück liegt.

    Wie sehr liegt die Bevölkerungsgröße derzeit daneben?

    Kreyenfeld: Das kann selbst das Statistische Bundesamt erst nach dem Zensus genau sagen. 2008 hat es geschätzt, dass die amtliche Bevölkerungszahl um etwa 1,3 Millionen zu hoch liegt. Damit wäre der Bestand um etwa ein bis zwei Prozent niedriger als wir gedacht haben. Das ist aber nur der Saldo. Die Abweichungen im Einzelnen, also nach Alter, Region und Staatsangehörigkeit, können deutlich größer ausfallen.

    Warum sind Bevölkerungsdaten so wichtig für die Wissenschaft?

    Kreyenfeld: In der Wissenschaft sind Bevölkerungsdaten wichtig, da wir viele relevante Kenngrößen berechnen, in die die Größe oder die Struktur der Bevölkerung als Bezugsgröße eingeht. Das reicht von den Bildungsausgaben pro Kind bis hin zu demografischen Ziffern wie der Geburten- oder der Sterberate. Sind die Bevölkerungszahlen falsch, dann sind es auch diese Werte.

    Wie groß ist der Fehler?

    Kreyenfeld: Darüber lässt sich bis nach dem Zensus nur spekulieren. Es hängt sehr davon ab, in welchen Altersklassen die Fehler der Bevölkerungszahlen am größten sind. Ich habe ein hypothetisches Beispiel für die Demografie ausgerechnet: Wenn sich herausstellte, dass wir die Bevölkerung heute um 1,5 Millionen Einwohner überschätzen, und zwar in allen Altersgruppen gleich stark, dann stiege die Geburtenrate, die im Jahr 2009 bei 1,36 lag, auf etwa 1,39 Kindern pro Frau.

    Eine dramatische Veränderung ist das nicht gerade...

    Kreyenfeld: Käme es auf natürlichem Weg zu einer solchen Steigerung, würde das durchaus für Aufmerksamkeit sorgen – in Politik wie Medien. Der Zensus wird vor allem zeigen: Einige viel beachtete Werte sind schon lange anders, als wir dachten. Besonders große Veränderungen wird es vermutlich für die Sterblichkeit und Lebenserwartung Hochaltriger geben.

    Warum?

    Kreyenfeld: In hohem Alter erwarten wir die größten Überschätzungen, weil insbesondere durch Fortzug von Migranten der Bevölkerungsbestand in diesem Alter aufgebläht ist. Am Max-Planck-Institut für demografische Forschung haben wir durch den Vergleich verschiedener Datenquellen berechnet, dass die amtliche Statistik für West-Deutschland schon 2005 vermutlich über 40 Prozent zu viele Männer im Alter über 90 auswies. Der Fehler wächst mit dem zeitlichen Abstand zur letzten Volkszählung.

    Das klingt, als seien nicht alle Bevölkerungsteile gleich stark von falschen Daten betroffen.

    Kreyenfeld: Besonders stark betroffen wird die ausländische Bevölkerung sein, deren Bevölkerungszahl recht ungenau ist. Es könnte auch sein, dass bestimmte Regionen Überraschungen erleben, zum Beispiel die neuen Bundesländer. Nach der Wende hat es viel Ost-West-Wanderung gegeben hat, die teils nicht richtig erfasst worden ist.

    Wieso sind die amtlichen Bevölkerungsdaten so wichtig, wo die Forschung doch selbst mächtige Erhebungen durchführt, etwa das Sozioökonomische Panel (SOEP) oder die allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS)?

    Kreyenfeld: Auch die Qualität solcher Erhebungen hängt von der Qualität der amtlichen Bevölkerungszahlen ab, und zwar gleich zweifach: Zum einen benötigt man die regionalen Bevölkerungsgrößen, um überhaupt eine repräsentative Stichprobe von Personen zu ziehen, die befragt werden können. Aus dem Rücklauf der Antworten muss schließlich eine Hochrechnung gemacht werden, um die Ergebnisse an die tatsächliche Bevölkerungsstruktur anzupassen. Und um die zu kennen, sind wiederum gute Zensusdaten nötig.

    Ist das denn ein typisch deutsches Problem?

    Kreyenfeld: Auch in anderen Ländern werden die Bevölkerungszahlen zwischen den Zensen schlechter, das ist normal. Allerdings machen die meisten alle zehn Jahre eine Zählung, wie es EU und Vereinte Nationen fordern. Deutschland ist durch seine lange Zensuspause international ins Hintertreffen geraten.

    Schließt Deutschland denn mit dem aktuellen Zensus international wieder auf?

    Kreyenfeld: Die neue Methodik des deutschen Zensus, also eine Mischung aus Registerauswertung und stichprobenartiger Befragung, ist sicherlich am Puls der Zeit. Trotzdem bleibt Deutschland ein Spezialfall. Für den Zensus 2011 werden zwar die Fehler in den Registern bereinigt. Aber die Fehlbestände dürfen nicht langfristig korrigiert werden. Die Register bleiben damit fehlerhaft, sie werden nicht wie in anderen Ländern korrigiert. Das ist in Deutschland gemäß dem Volkszählungsurteil von 1983 verboten. Dies ist eine politisch-rechtliche Entscheidung, die die Wissenschaft allerdings achtet und als gegeben hinnimmt.

    Unabhängig davon hat die Zensuskommission, also die unabhängigen Wissenschaftler, die den Zensus 2011 begleiten, öffentlich bedauert, dass der deutsche Zensus zu beschränkt sei.

    Kreyenfeld: Mit seinen 46 Fragen geht der Zensus kaum über den Pflichtkatalog der EU hinaus – obwohl das möglich gewesen wäre. Lediglich zwei Fragen wurden zusätzlich aufgenommen: Eine über den Migrationshintergrund der Befragten und eine über die Religionszugehörigkeit. Letztere ist aber freiwillig und darum weniger verlässlich.

    Wäre es richtig gewesen, weitere Fragen in den Zensus-Katalog aufzunehmen?

    Kreyenfeld: Die Wissenschaft fordert natürlich immer mehr Daten, als letztlich erhoben werden, das ist in gewisser Weise ihre Rolle. Aber nicht nur in der Forschung hält man einen erweiterten Katalog für sinnvoll. So haben die Vereinten Nationen für die aktuelle Zensusrunde zusätzliche Fragen etwa aus dem Bereich der Fertilität empfohlen. Sie wurden nicht aufgenommen, obwohl die Zensuskommission diese Empfehlung bekräftigt hat. So wird in Deutschland weiterhin nicht nach der Zahl der geborenen Kinder je Frau gefragt. Und das, obwohl die Kinderzahl einige politische Relevanz hat.

    Ist die Kinderzahl denn nicht aus der Geburtenstatistik der Standesämter bekannt?

    Kreyenfeld: Nur mit Einschränkungen. Dort werden zwar die Geburten erfasst, jedoch kaum weitere Merkmale der Kinder oder ihrer Eltern. So kann man auf Basis der Geburtenstatistik etwa nichts darüber sagen, ob Akademikerinnen besonders wenig oder viele Kinder bekommen. Bis vor Kurzem wussten wir noch nicht einmal, wie alt die Mütter bei Geburt ihrer ersten Kinder sind, weil nicht erfasst wurde, ob es sich bei einer Geburt um ein erstes, zweites oder weiteres Kind handelt.

    Reichen für solche Geburtendaten nicht der Mikrozensus, die große Haushaltsstichprobe des Statistischen Bundesamtes, oder andere Erhebungen aus?

    Kreyenfeld: Im Mikrozensus wird erst seit 2008 nach der Kinderzahl von Frauen gefragt. Die Frage ist allerdings nur alle vier Jahre enthalten, ist freiwillig und stand 2008 zusammenhangslos ganz am Ende des Fragebogens. Leider ist deswegen die Antwortverweigerung mit zwölf Prozent der Befragten so hoch, dass diese Daten nicht völlig verlässlich sind. Da die Kinderzahl im Zensus und Mikrozensus entweder fehlen oder nicht belastbar sind, können sie auch zur Hochrechnung von sozialwissenschaftlichen Befragungen nicht verwendet werden. Die Folge ist, dass auch die Berechnungen zur Kinderzahl in diesen Befragungen auf keiner verlässlichen Basis stehen. Wir stehen also weiterhin ohne handfeste Daten zur Kinderlosigkeit oder zur Fertilität nach Bildungsgruppen da.

    In der Öffentlichkeit halten sich Forscher mit Kommentaren zum Zensus eher zurück. Wie steht die wissenschaftliche Gemeinschaft zur aktuellen Zählung?

    Kreyenfeld: Das lässt sich pauschal natürlich schwer sagen. Mir scheint aber, dass es generell Freude und Erleichterung darüber gibt, dass nun wieder ein Zensus stattfindet und wir dadurch bessere Bevölkerungsdaten bekommen als in den letzten zwanzig Jahren. In Deutschland nach den Erfahrungen von 1987 einen Zensus durchzuführen, ist sicher nicht ganz einfach. Wenn das Statistische Bundesamt das geschafft hat, hat es eine Menge geleistet.

    Herzlichen Dank für das freundliche Gespräch.

    Das Interview führte Björn Schwentker.


    Weitere Informationen:

    http://www.demogr.mpg.de/ - Max-Planck-Institut für demografische Forschung
    http://www.mpg.de/284785/Vaupel - So viel Leben: James Vaupel im Porträt


    Bilder

    Michaela Kreyenfeld forscht am Max-Planck-Institut für demografische Forschung  im Arbeitsbereich Ökonomische und Soziale Demografie. Die Demografin und Familiensoziologin, die auch Juniorprofessorin am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock ist, untersucht das Geburtenverhalten von Frauen und Männern und den Wandel von Familien- und Partnerschaftsformen insbesondere in Deutschland und im innerdeutschen Ost-West-Vergleich, sowie die Auswirkung familienpolitischer Maßnahmen auf die Geburten- und Familienentwicklung. Als Mitglied im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) setzt sie sich für die Verfügbarkeit verlässlicher Daten für die Forschung ein.
    Michaela Kreyenfeld forscht am Max-Planck-Institut für demografische Forschung im Arbeitsbereich Ök ...
    Max-Planck-Institut für demografische Forschung
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
    Gesellschaft, Politik
    überregional
    Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

    Michaela Kreyenfeld forscht am Max-Planck-Institut für demografische Forschung im Arbeitsbereich Ökonomische und Soziale Demografie. Die Demografin und Familiensoziologin, die auch Juniorprofessorin am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock ist, untersucht das Geburtenverhalten von Frauen und Männern und den Wandel von Familien- und Partnerschaftsformen insbesondere in Deutschland und im innerdeutschen Ost-West-Vergleich, sowie die Auswirkung familienpolitischer Maßnahmen auf die Geburten- und Familienentwicklung. Als Mitglied im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) setzt sie sich für die Verfügbarkeit verlässlicher Daten für die Forschung ein.


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