idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
18.07.2012 15:59

Unklare Gesetzeslage nach BGH-Urteil: Zunahme von körperlichen Zwangsmaßnahmen befürchtet

Nicole Siller Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)

    Der aktuelle Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 17.07.12 zeigt das Dilemma, welches der Gesetzgeber verursacht hat. Ärztinnen und Ärzte stehen somit im Arbeitsalltag vor einer rechtlich widersprüchlichen Situation: Patienten mit einer schweren psychiatrischen Erkrankung ohne Zustimmung nicht medikamentös behandeln zu dürfen, damit jedoch gleichzeitig unterlassene Hilfeleistung zu vollziehen. Patienten in einem ernsthaften psychischen Risikozustand oft ohne Einschätzungsmöglichkeit ihrer eigenen Situation können somit nicht mehr behandelt werden. Es besteht dringender Handlungsbedarf seitens des Gesetzgebers.

    Der u.a. für das Betreuungsrecht zuständige XII. Zivilsenat des BGH hat in zwei Verfahren entschieden, dass es gegenwärtig an einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden gesetzlichen Grundlage für eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung fehlt.

    „Die DGGPN begrüßt diese BGH-Entscheidungen im Grundsatz, da sie die Selbstbestimmung und die Autonomie der Patienten stärkt. Allerdings muss jetzt der Gesetzgeber dringend handeln und die seitens des BGH eingeforderten gesetzlichen Grundlagen für eine Patienten orientierte Behandlung gerade auch der schwer kranken Patienten zu schaffen,“ so der Präsident der DGPPN Prof. Dr. med. Peter Falkai. “Geschieht dies nicht, steht zu befürchten, dass sich die nun fehlende medikamentöse Behandlung in einer deutlichen Zunahme anderer Zwangsmaßnahmen wie beispielsweise geschlossenen Unterbringungen, Separierungen, mechanischen Fixierungen oder gravierenden selbstschädigenden Verhaltensweisen äußern wird.“

    In seiner Entscheidung vom März 2011 hat das Bundesverfassungsgericht die Patientenrechte gestärkt und eine medikamentöse Behandlung ohne Einverständnis des Patienten an hohe rechtliche Hürden geknüpft. Die DGGPN hat diese Entscheidung im Grundsatz begrüßt, da sie die Selbstbestimmung und die Autonomie der Patienten stärkt. Allerdings warnte die DGGPN auch vor den Konsequenzen der rigorosen und keine Übergangsfrist einräumenden Entscheidung (Stellungnahme vom 16.01.2012). Die Entscheidung, die anlässlich der medikamentösen Behandlung eines Patienten aus dem Maßregelvollzug getroffen wurde, hat nun die Regelversorgung einer Vielzahl psychiatrischer Patienten erreicht.

    Kontakt:
    Prof. Dr. med. Peter Falkai
    Direktor der Psychiatrischen Klinik der
    Ludwig-Maximilians-Universität
    Nussbaumstr. 7
    80336 München
    Tel: 089 5160 5500 - 5501
    Fax: 089 5160 5522
    E-Mail: Peter.Falkai@med.uni-muenchen.de

    Weitere Informationen finden sich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde unter http://www.dgppn.de.

    _______________________________

    Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN):

    Wurde 1842 gegründet und zählt heute mehr als 6.300 Mitglieder. Sie ist einer der größten und ältesten wissenschaftliche Vereinigung von Ärzten und Wissenschaftlern in Deutschland. Getragen von der Vision einer Gesellschaft, in der Menschen mit psychischen Erkrankungen unbehelligt von Vorurteilen leben können und die für sie ihnen notwendige Hilfe erhalten.

    Hintergrund
    Patienten mit einer psychischen Störung kann auf Grundlage des Betreuungsgesetzes ein Betreuer an die Seite gestellt werden, der sie dabei unterstützt, ihre Interessen wahrzunehmen. Der Betreuer wird durch das Betreuungsgericht zum Betreuer bestimmt. Zu den gerichtlich auferlegten Aufgaben des Betreuers kann es auch gehören, den betroffenen Patienten einer medikamentösen Behandlung ohne dessen Willen zuzuführen. Diese Behandlung muss durch das Betreuungsgericht gesondert genehmigt werden.
    Eine medikamentöse Zwangsbehandlung auf Grundlage des Betreuungsgesetzes kann nur bei Selbstgefährdung des Patienten genehmigt werden. Solche Behandlungen auf Grundlage des Betreuungsgesetzes ohne den Willen des Patienten ermöglichen es, in einer Vielzahl von Fällen, Patienten aus einer geschlossenen akutpsychiatrischen Behandlung in eine betreute oder gar in eine selbständige Wohnform zu überführen und ihnen so eine weitreichend autonome Lebensgestaltung zu ermöglichen. Ohne den Schutz dieser sich bei den betroffenen Patienten als hilfreich bewährten Behandlungen, wird in vielen Fällen die Voraussetzung dieses etablierten sozialen Gefüges gefährdet.

    Am 23.03.2011 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine medikamentöse Behandlung ohne Einverständnis des Patienten gegen das Grundgesetz verstoße, da es hierfür bislang keine hinreichende gesetzliche Grundlage gibt. Zwar könne es unter Abwägung anderer Rechtsgüter geboten sein, eine medikamentöse Behandlung auch ohne oder sogar gegen den Willen des Betroffenen befristet durchzuführen, um dessen Einwilligungsfähigkeit und sein Einverständnis mit der Behandlung herzustellen, dies wurde allerdings an konkrete rechtliche Voraussetzungen geknüpft, die ausweislich der damaligen Entscheidung zumindest nicht im Maßregelvollzugsgesetz Rheinland-Pfalz erfüllt waren. Von dieser Entscheidung des höchsten Gerichtes ist eine Vielzahl weiterer Gesetze betroffen. Neben den Maßregelvollzugsgesetzen sind auch manche Unterbringungsgesetze berührt, da sie keine hinreichende rechtliche Grundlage für eine medikamentöse Behandlung ohne Einverständnis des betroffenen Patienten bieten. In der Konsequenz entschied nun der Bundesgerichtshof, dass auch auf Grundlage des Betreuungsrechts eine medikamentöse Behandlung ohne das Einverständnis des Betroffenen nicht zulässig sei und untersagte nun auch die medikamentöse Behandlung auf Grundlage des Betreuungsgesetzes ohne die Zustimmung des betroffenen Patienten.

    Die DGPPN hat im Januar 2012 in einer Stellungnahme auf die Problematik hingewiesen. Die Stellungnahme ist zu finden unter: http://www.dgppn.de/publikationen/stellungnahmen/detailansicht/browse/1/article/....


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Psychologie
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).