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27.02.2007 11:18

Gehirn arbeitet chaotischer als angenommen

Frank Luerweg Abteilung Presse und Kommunikation
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

    Das Gehirn verarbeitet Informationen augenscheinlich chaotischer als bislang angenommen. Das zeigen Wissenschaftler der Universität Bonn in einer aktuellen Studie. Die Weiterleitung der Informationen von Neuron zu Neuron erfolgt demnach nicht ausschließlich an den so genannten Synapsen - das sind die Kontaktstellen zwischen den Nervenzell-Fortsätzen. Anscheinend schütten die Neuronen auch auf der ganzen Länge dieser Fortsätze Botenstoffe aus und erregen so benachbarte Zellen. Die Ergebnisse werfen nicht nur grundlegende Vorstellungen über den Haufen, wie unser Gehirn funktioniert. Sie könnten auch zur Entwicklung neuer Medikamente beitragen. Die Studie erscheint in Kürze in der renommierten Zeitschrift "Nature Neuroscience", ist aber schon online abrufbar (doi:10.1038/nn1850).

    Bisher schien alles ganz klar: Nervenzellen empfangen ihre Signale mit kurzen "Zellärmchen", den so genannten Dendriten. Diese leiten die elektrischen Impulse zum Zellkörper, wo sie verarbeitet werden. Für die "Verteilung" des Resultats sind die Axone zuständig: Das sind lange kabelartige Zellausläufer, in denen die elektrischen Signale entlanglaufen, bis sie an einer Synapse auf das Dendrit-Ärmchen eines anderen Neurons treffen. Für die elektrischen Nervenzellpulse stellt die Synapse eine unüberwindbare Barriere dar. Daher kommt es dort zu einer wundersamen Signal-Umwandlung: Die Synapse schüttet Botenstoffe aus, so genannte Neurotransmitter, die zum Dendriten diffundieren. Dort docken sie an bestimmte Rezeptoren an und erzeugen so wieder elektrische Impulse. "Bisher nahm man an, dass nur an Synapsen Neurotransmitter ausgeschüttet werden", betont der Bonner Privatdozent Dr. Dirk Dietrich. "Das scheint nach unseren Erkenntnissen aber nicht zu stimmen."

    Botenstoff lockt Isolierzellen an

    Zusammen mit seinen Kolleginnen Dr. Maria Kukley und Dr. Estibaliz Capetillo-Zarate hat Dietrich die "weiße Substanz" im Gehirn von Ratten genauer untersucht. Hier liegen die "Kabelschächte", die rechte und linke Hirnhälfte miteinander verbinden. Sie bestehen im wesentlichen aus Axonen und Hilfszellen. Dendriten oder gar Synapsen gibt es dort keine. "Man würde dort also auch keine Botenstoff-Freisetzung erwarten", betont der Hirnforscher.

    Dennoch machten die Wissenschaftler in der weißen Substanz eine merkwürdige Entdeckung: Sobald ein elektrischer Impuls durch ein Axon-Kabel läuft, wandern kleine Bläschen mit Glutamat zur Axon-Membran und entlassen ihren Inhalt ins Gehirn. Glutamat ist einer der wichtigsten Neurotransmitter und wird auch bei der Signalweiterleitung an Synapsen ausgeschüttet. Die Forscher konnten sogar nachweisen, dass bestimmte Zellen in der weißen Substanz auf das Glutamat reagierten: Die Vorläufer der so genannten Oligodendrozyten. Oligodendrozyten sind die "Isolierzellen" des Gehirns: Sie produzieren das Myelin, eine Art Fettschicht, die die Axone umhüllt und für eine schnellere Signalweiterleitung sorgt. "Wahrscheinlich orientieren sich noch unreife Isolierzellen mit Hilfe des Glutamats, um Axone zu finden und sie mit einer Myelinschicht zu umhüllen", vermutet Dirk Dietrich.

    Sobald die Axone den weißen "Kabelschacht" verlassen, treten sie in die graue Gehirnsubstanz ein und treffen dort auf ihre Empfänger-Dendriten. Dort erfolgt an den Synapsen die Weitergabe der Information an die Empfängerzelle. "Wir halten es jedoch für wahrscheinlich, dass die Axone auch außerhalb von Synapsen auf ihrem Weg durch die graue Substanz Glutamat freisetzen", spekuliert Dietrich. "Hier liegen Nervenzellen und Dendriten dicht an dicht. Das Axon könnte so also nicht nur den eigentlichen Empfänger, sondern auch noch zahlreiche weitere Nervenzellen erregen."

    Sollte diese These stimmen, muss die seit über hundert Jahren gültige Lehrmeinung zur Kommunikation von Neuronen revidiert werden. 1897 prägte Sir Charles Sherrington die Idee, dass nur an den Synapsen Botenstoffe freigesetzt werden. Laut dem Begründer der modernen Neurophysiologie können Nervenzellen daher nur mit wenigen Nervenzellen kommunizieren: nämlich nur mit denjenigen, mit denen sie über Synapsen verbunden sind. Auf diesem Konzept beruht die Vorstellung, dass sich neuronale Information im Gehirn ähnlich wie Strom in einem Computer gerichtet und nur entlang bestimmter geordneter Schaltkreisen ausbreitet.

    Zuviel Glutamat ist der Zellen Tod

    Die Entdeckung des Forscherteams hat aber noch einen medizinisch interessanten Aspekt: Es ist schon lange bekannt, dass bei Sauerstoffmangel oder heftigen epileptischen Anfällen zahlreiche Isolierzellen in der weißen Substanz zugrunde gehen. Auslöser der Schäden ist ein alter Bekannter: Der Neurotransmitter Glutamat. "Niemand wusste bislang jedoch, wo das Glutamat herkommt", sagt Dr. Dietrich. "Unsere Ergebnisse eröffnen vielleicht völlig neue Therapieoptionen." Denn schon heute gibt es Medikamente, die verhindern, dass Glutamatbläschen ihre Fracht ins Gehirn abgeben. Auch wissen die Bonner Neurowissenschaftler inzwischen genau, welche Rezeptoren der Isolierzellen der Neurotransmitter stimuliert - ebenfalls ein Ansatzpunkt für neue Arzneien.

    Doch warum ist Glutamat mitunter so gefährlich? Bei einem Epilepsie-Anfall "feuern" die Nervenzellen sehr schnell und heftig. Dann laufen so viele Impulse durch die Axone, dass auf einen Schlag große Mengen Glutamat frei werden. "In diesen Konzentrationen schädigt der Botenstoff die Isolierzellen", sagt Dietrich. "Die Dosis macht das Gift."

    Kontakt:
    PD Dr. Dirk Dietrich
    Klinik für Neurochirurgie
    Telefon: 0228/287-19224 oder -16590
    E-Mail: dirk.dietrich@ukb.uni-bonn.de


    Bilder

    Der Bonner Privatdozent Dr. Dirk Dietrich
    Der Bonner Privatdozent Dr. Dirk Dietrich
    (c) Frank Luerweg / Uni Bonn
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    (c) Frank Luerweg / Uni Bonn
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Chemie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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