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28.08.2008 14:36

Im Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Elbert

Claudia Leitenstorfer Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Universität Konstanz

    Thomas Elbert ist Wissenschaftler aus Passion. Doch der Professor für Klinische Psychologie und Neuropsychologie lässt es nicht bei der Theorie bewenden - als Vorstandsmitglied der Nicht-Regierungs-Organisation (NGO) "vivo" (Victims Voice, zu deutsch "Stimme der Opfer", http://www.vivo.org) ist Elbert weltweit in Kriegs- und Krisengebieten tätig. "Im Gespräch" hat sich bei ihm nach Details erkundigt.

    Herr Professor Elbert, wie kam es zu Ihrem Engagement für vivo?

    Dr. Maggie Schauer, die Leiterin der Ambulanz für Flüchtlinge, hatte während eines Einsatzes im Kosovokrieg vor zehn Jahren für "Ärzte ohne Grenzen" gearbeitet. Sie sollte mit traumatisierten Flüchtlingen Therapien machen. Bei der Behandlung von Krankheiten wie Cholera und Typhus beispielsweise konnten sich die Ärzte auf die medizinischen Forschungsergebnisse auch in westlichen Ländern stützen. Für die oft verheerende seelische Beeinträchtigung in Folge von traumatischem Stress in Kriegs- und Krisenregionen hingegen hatte noch keine NGO ein geeignetes Hilfspaket - es gab keine Feldstudien, keine professionellen Grundlagen.

    Das haben Sie von der Uni Konstanz in die Hand genommen?

    Ja, natürlich in enger Zusammenarbeit und mitunter in heißer Auseinandersetzung mit den Personen, die vor Ort arbeiten. Wenn man als Wissenschaftler Wege sieht, Menschen in Not direkt zu helfen, dann ist dies nicht nur Pflicht, sondern auch Berufserfüllung. Dabei verlangt die Wissenschaft aber immer den Nachweis der Wirksamkeit von Interventionen. So kam es 2000 zur Gründung von vivo. In Kooperation mit der Universität Konstanz und mit Unterstützung der EU (Europäischer Flüchtlingsfonds) betreiben wir die deutschlandweit erste Modell- und Forschungsambulanz für Flüchtlinge in Konstanz.

    Was genau ist ihre Aufgabe?

    Wie kann man Menschen im In- und Ausland helfen, die traumatisiert wurden? Was muss man tun, damit Traumatisierte das schlimme Ereignis zeitlich und räumlich zuordnen können und sich so nicht immer wieder in die Situation zurückversetzt fühlen, die ihnen Todesangst macht? Das sind Fragen, die uns beschäftigen. In Krisengebieten wird schnell klar: Das westliche Standardverfahren können wir dort völlig vergessen. Uns boten sich zwei Möglichkeiten: Wir sagen, den Leuten kann nicht geholfen werden. Oder aber wir führen eine neue Kurzzeittherapie mit wenigen - drei bis sechs - anstelle von 20, 30 Sitzungen. Wir haben uns für die zweite Möglichkeit entschieden.

    Wie sieht die Kurzzeittherapie aus?

    Gemeinsam mit Dr. Maggie Schauer und Professor Frank Neuner haben wir die Narrative Expositions Therapie (NET) entwickelt. Mithilfe von NET bildet sich aus fragmentarischen, biographischen Erinnerungen eine kohärente Geschichte. Erleichterung tritt durch die Integration und Habituation vergangener Ängste ein. Aus dem sprachlosen Terror im 'Hier und Jetzt' entsteht eine in Worte gefasste, an einem anderen Ort erlebte, Vergangenheit (Vergeschichtlichung und Verortung). Bei der NET werden die Betroffenen ermutigt, ihre Lebensgeschichte und vor allem ihre belastenden Ereignisse in ihrem chronologischen Ablauf zu beschreiben. Die Erinnerungen werden dabei auf einer kognitiven, emotionalen und sensorischen Ebene psychisch und physisch erlebt. Die entstehende Autobiographie wird schriftlich festgehalten und in den nächsten Sitzungen erneut durchgearbeitet, ergänzt und korrigiert. Die Therapie wird mit einem Ritual abgeschlossen.

    Wie waren Ihre Erfahrungen?

    Schon bei den ersten Fällen super. Wir hatten beispielsweise eine Frau, die regelmäßig ohnmächtig wurde, wenn sie im Flüchtlingslager jemanden liegen sah. Die Frau hatte eine Vergewaltigung hinter sich, war dabei ohnmächtig geworden und als sie wieder zu sich kam drohte ihr die Exekution. Schon in der zweiten Sitzung hatte sie begriffen: Das, was ich sehe, hat nichts mit meiner Vergangenheit zu tun. Ich muss keine Verteidigungskaskade mit "Totstellen" einschalten. Von da ab konnte die Frau ohne Dissoziation durchs Lager gehen, ihre Funktionstüchtigkeit war deutlich verbessert. Oder wir hatten einen Soldaten aus Bosnien, der blind war. Es stellte sich heraus, dass er bei der Vergewaltigung seiner Frau zuschauen musste. Schon nach einigen Sitzungen erkannte er den Zusammenhang mit der Blindheit. Heute sieht er wieder völlig normal.

    Gibt es auch Menschen, denen Sie gar nicht helfen können?

    Wir sind in vier von fünf Fällen erfolgreich. Natürlich stoßen auch wir an unsere Grenzen: Wenn es beispielsweise die Scham eines Menschen nicht zulässt, dass er mit uns über den Vorfall spricht, der eine Traumatisierung nach sich gezogen hat.

    Sie haben in Norduganda auch Kindersoldaten therapiert. Können Sie kurz Ihre Erfahrungen umreißen?

    Eigentlich wollten wir am Anfang keine Kindersoldaten therapieren - wir haben gesagt, wir arbeiten nur mit Opfern, Kindersoldaten sind auch Täter. Beim näheren Hinschauen allerdings sind die Grenzen schnell verschwommen - die Kinder haben zum Teil unvorstellbar Grausames erlebt. Wie kann es sein, dass ein Kind dabei ganz normal bleibt, ein anderes schwerst gestört wird? Das ist auch wissenschaftlich eine interessante Herausforderung. Das Positive ist, dass Kinder in der Regel gut therapierbar sind. Sie schauen auf ein kürzeres Leben zurück und das erlebte Elend ist so leichter den Ereignissen der Vergangenheit zuordenbar. Und ihr Gedächtnis ist viel besser zu strukturieren, das heißt, in der Regel sind sie leichter einem Heilungsprozess zuführbar.

    Welche Stationen haben Sie bisher hinter sich?

    Es ist leider so, dass die Kriegs- und Krisengebiete nicht ausgehen. Seit nunmehr zehn Jahren sorgen wir uns um Flüchtlinge in dem zentralafrikanischen Staat Uganda. Einerseits gibt es dort durch Rebellenbewegungen bedingt viele Binnenflüchtlinge, andererseits suchen dort viele Überlebende organisierter Gewalt aus den umliegenden Regionen - Sudan, Kongo, Rwanda - Zuflucht. - Die größte Struktur für seelische Gesundheit haben wir in Sri Lanka aufgebaut. Unter den Tamilen leiden ein Viertel der Kinder unter den Folgen traumatischer Stressoren, auf Grund der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen. Mehr als 15000 Kinder wurden bereits von den von uns geschulten Therapeuten dort versorgt.

    Sind Sie noch auf Sri Lanka tätig?

    Aufgrund der erneuten kriegerischen Auseinandersetzungen ist eine direkte Arbeit für uns dort schwierig. Aber vivo ist in beständigem Kontakt mit den Helfern im Krisengebiet. Tätig waren wir auch in Afghanistan - dort haben wir beim Ausbau von Beratungszentren für psychotherapeutische Hilfe mitgeholfen. Seit 2006 haben wir uns zurückgezogen - die Politik dort ist völlig absurd, die Situation völlig hoffnungslos. Mit Südamerika, Somalia, Äthiopien und Ruanda haben wir Länder, in denen wir noch aktiv sind. In Somalia beispielsweise konsumieren immer mehr Menschen die Droge "Khat" - mit verheerenden Folgen: Leute müssen eingesperrt werden, weil sie völlig unberechenbar sind. Wir wollen bei der Bewältigung dieses Riesenproblems helfen. Wobei es immer unser Ziel ist, Menschen vor Ort so auszubilden, dass sie nur vorübergehend auf therapeutische und wissenschaftliche Unterstützung aus Europa oder den USA angewiesen sind.

    Hat sich Ihr Menschenbild verändert, seitdem Sie in Krisen- und Kriegsgebieten tätig sind?

    Ja. Ich weiß mittlerweile: Sie können jeden zum Killer machen. Und ich kann aufgrund meines veränderten Menschenbildes manche Unterschiede zwischen dem weiblichen und männlichen Geschlecht besser verstehen. Das bei Männern höhere Testosteron prägt und verändert Gehirnfunktionen. Männliche Kindersoldaten beispielsweise finden das, was sie tun, emotional aufregend, die Mädchen töten erst mal nicht. Um es zu verkürzen: Frauen töten in der Regel nur in der allergrößten Not. Für Männer dagegen liegt ein Reiz darin, der in friedlichen Zeiten gehemmt wird.

    Woran arbeiten Sie gerade konkret?

    Wir hatten in Norduganda eine große Untersuchung. Das Ergebnis: Jeder zweite ist wenigstens ein Mal in seinem Leben entführt worden und viele haben länger Zeit bei den Rebellen leben müssen. Was passiert hier, haben wir uns gefragt. Gibt es ein Gefahrenpotential? Wie entstehen Bürgerkriege? Wir haben mit dem Politikwissenschaftler Gerald Schneider eine Forschungsinitiative mit dem Ziel einer Konfliktresolution gegründet, die wir Psychologen nun gemeinsam mit den Politikwissenschaftlern und Biologen erarbeiten wollen. Das ist ein richtiges Abenteuer.

    Die Situation in den Ländern, in denen Sie für Ihre Projekte unterwegs sind, sind nicht immer stabil. Machen Sie sich bisweilen Sorgen um Ihre Sicherheit und die Ihrer Mitarbeiter?

    Unsere Arbeit in Ländern wie Uganda, Rwanda oder Somalia bringt es mit sich, dass wir ganz eng mit den Leuten vor Ort zusammenarbeiten. Da entsteht ein Vertrauensverhältnis, und da gibt es auch kein Tabu mehr, weil über jede Bluttat, über jede Vergewaltigung geredet wird. Die Leute in diesen Ländern wissen, wo es sicher ist und wo nicht. Auf ihre Empfehlungen hören wir. Sie sind unsere Lebensversicherung.

    Zur Person:

    Thomas Elbert, Professor für Klinische Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Konstanz, studierte Psychologie und Physik in München und Tübingen. Als Mitherausgeber mehrerer Zeitschriften, vor allem aber als Autor und Koautor von mehr als 300 Veröffentlichungen, darunter einem Dutzend Büchern, hat Elbert zur Untersuchung von Selbstorganisation und Selbstregulation des Gehirns, sowie zu Verständnis der Neuroplastizität und deren Beziehungen zu Psychopathologie, insbesondere Erkrankungen des Traumaspektrums beigetragen. Auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Einsichten wurden im Konstanzer Labor neue Behandlungsverfahren sowohl im Bereich der Neurorehabilitation wie der Psychotherapie entwickelt und getestet. Gegenwärtig ist Elbert Sprecher der DFG-Forschergruppe "Science of Social Stress" und im Vorstand der Nichtregierungsorganisation "vivo", deren Schwerpunkt im Bereich der Arbeit mit Überlebenden organisierter Gewalterfahrungen liegt.


    Bilder

    Prof. Dr. Thomas Elbert
    Prof. Dr. Thomas Elbert
    Bild: Universität Konstanz, Pressestelle
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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