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24.06.2009 19:00

Früheste Musiktradition in Südwestdeutschland nachgewiesen

Michael Seifert Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Forscher der Universität Tübingen berichten in der Zeitschrift Nature: Ausgrabungen von Archäologen um den Tübinger Urgeschichtler Prof. Nicholas
    Conard haben im Sommer 2008 an den Fundstellen Hohle Fels und Vogelherd in Form einer nahezu vollständigen Knochenflöte und einzelner Fragmente dreier Elfenbeinflöten neue Belege für Musik im Paläolithikum geliefert.

    Achtung Sperrfrist: 24. Juni, 19 Uhr
    Bitte diese Sperrfrist von Nature unbedingt beachten!

    Der bedeutendste dieser Funde, eine fast vollständige Knochenflöte, wurde in der untersten Schicht des sogenannten Aurignacien, der ältesten mit dem modernen Menschen in Verbindung gebrachten Kultur in Europa, im Hohle Fels im Achtal, 20 km westlich von Ulm, entdeckt. Die Flöte wurde in zwölf Bruchstücken geborgen, die in einem kleinen Bereich von vertikal 3 cm und horizontal von 10 cm auf 20 cm gefunden wurden. Diese Flöte ist das bei weitem vollständigste aller bisher in den Schwäbischen Höhlen entdeckten Musikinstrumente.

    Die Flöte vom Hohle Fels ist auf einer Länge von 21,8 cm erhalten und hat einen Durchmesser von etwa 8 mm. Fünf Fingerlöcher sind vorhanden. Die Oberfläche des Instruments und die Knochenstruktur befinden sich in einem ausgezeichneten Erhaltungszustand und offenbaren zahlreiche Einzelheiten der Fabrikation. Der Hersteller schnitzte zwei tiefe, V-förmige Kerben in ein Ende des Instruments, wahrscheinlich um so das Anblasende zu formen. Die Schicht, in der die Flöte lag, umfasst viele Abfälle der Steinbearbeitung, bearbeitete Knochen, bearbeitetes Elfenbein, Knochen von Pferd, Rentier, Mammut, Höhlenbär und Steinbock sowie verbrannte Knochen. Obwohl keine eindeutigen Menschenknochen im Schwäbischen Aurignacien entdeckt wurden, nehmen die Forscher an, dass anatomisch moderne Menschen die Artefakte aus dem Aurignacien hergestellt haben, kurz nachdem sie im Zuge ihrer Wanderung entlang der Donau aufwärts in der Region angekommen waren.

    Die Flöte ist aus der Speiche eines Gänsegeiers (Gyps fulvus) gefertigt. Diese Art hat eine Spannweite zwischen 230 und 265 cm und liefert Knochen, die für lange Flöten ideal geeignet sind. Gänsegeier und andere Geier sind in den jungpaläolithischen Sedimenten der schwäbischen Höhlen nachgewiesen.

    Die Ausgrabungen des Jahres 2008 erbrachten im Hohle Fels außerdem zwei kleine Bruchstücke, die nahezu sicher zu zwei Elfenbeinflöten aus dem frühesten Aurignacien gehören. Die unterschiedlichen Abmessungen der Fragmente zeigen, dass die beiden Funde nicht zu demselben Instrument gehören. Die Ausgräber am Vogelherd im Lonetal, 25 km nordwestlich von Ulm, haben ein weiteres einzelnes Bruchstück einer weiteren Elfenbeinflöte entdeckt.

    Die Technik zur Herstellung einer Elfenbeinflöte ist wesentlich komplizierter, als es bei einer Flöte aus einem Vogelknochen der Fall ist. Der Herstellungsprozess erfordert es, zunächst grob die Form entlang der Längsachse des von Natur aus gebogenen Elfenbeinstücks herauszuarbeiten. Diese Rohform muss dann der Länge nach entlang der Schichtung des Elfenbeins in zwei Hälften gespalten, beide Hälften müssen sorgfältig ausgehöhlt werden. Nach dem Schnitzen der Grifflöcher müssen die Hälften wieder zusammengefügt und luftdicht versiegelt werden. Berücksichtigt man die Tendenz empfindlicher Elfenbeinartefakte, in zahlreiche Fragmente zu zerfallen, so ist es nicht ungewöhnlich, nur einzelne Stücke solcher Musikinstrumente aufzufinden.

    Die zehn Radiokohlenstoffdaten für das früheste Aurignacien liegen zwischen 31.000 und 40.000 Jahre vor heute. Eichungen sowie unabhängige Kontrollen mit anderen Methoden zeigen, dass die Flöten vom Hohle Fels älter als 35.000 Kalenderjahre und damit die ältesten Belege für Musikinstrumente sind. Außerhalb der Höhlen der Schwäbischen Alb gibt es keinen überzeugenden Beleg für Musikinstrumente, die älter als 30.000 Jahre sind.

    Die neuen Funde machen deutlich, dass Musik eine bedeutende Rolle im Leben der Aurignacienmenschen im Ach- und Lonetal in Südwestdeutschland gespielt hat. Die meisten der Flöten stammen aus archäologischen Kontexten mit einer großen Zahl an Steinartefakten, Werkzeugen aus organischen Materialien, Jagdfauna und verbrannten Knochen. Dieser Befund lässt darauf schließen, dass die Bewohner der Plätze in verschiedenen sozialen und kulturellen Zusammenhängen auf Musikinstrumenten spielten und dass die Flöten mit vielerlei anderem Siedlungsabfall fortgeworfen wurden. Im Falle des Hohle Fels lässt die Lage der Knochenflöte innerhalb eines dünnen archäologischen Horizontes in nur 70 cm Entfernung von der vor kurzem publizierten Frauenfigur vergleichbaren Alters, der sogenannten "Venus vom Hohle Fels", vermuten, dass vielleicht ein Zusammenhang zwischen beiden Fundstücken existiert.

    Die Flöten aus dem Hohle Fels und dem Vogelherd sowie aus dem nahe gelegenen Geißenklösterle zeigen, dass im kulturellen Repertoire des Aurignacien um die Zeit, als moderne Menschen die Region an der Oberen Donau besiedelten, eine musikalische Tradition bestanden hat. Die Herausbildung einer Musiktradition im Aurignacien begleitete die Entwicklung früher figürlicher Kunst und zahlreicher Innovationen, darunter ein breites Spektrum neuer Schmuckformen sowie neue Technologien bei Steinartefakten und Artefakten aus organischen Materialien. Das Vorhandensein von Musik im Leben jungpaläolithischer Völkergruppen bewirkte nicht unmittelbar eine effektivere Bedarfsdeckung und einen höheren Reproduktionserfolg, aber Musik scheint zu einer Verbesserung des sozialen Zusammenhalts und zu neuen Formen der Kommunikation beigetragen zu haben, die indirekt eine Bevölkerungsexpansion moderner Menschen auf Kosten der kulturell konservativeren Neandertaler unterstützt haben.

    Die Flöten aus den Höhlen der Schwäbischen Alb gehören zu den Hauptexponaten einer großen Landesausstellung in Stuttgart mit dem Titel 'Eiszeit - Kunst und Kultur', die vom 18. September 2009 bis zum 10. Januar 2010 gezeigt werden wird.

    Für Nachfragen:

    Prof. Nicholas J. Conard Ph.D.
    Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie
    Institut für Ur-und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters
    Universität Tübingen, Schloss Hohentübingen, 72070 Tübingen
    nicholas.conard[at]uni-tuebingen.de
    Tel.: (07071) 29-72416
    Fax: (07071) 29-5714

    Bildmaterial senden wir auf Anforderung gerne in hoher Auflösung zu.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geowissenschaften, Geschichte / Archäologie, Kulturwissenschaften, Musik / Theater, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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