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23.04.2015 12:51

Broken-Windows-Theorie wissenschaftlich kaum haltbar

Katja Bär Pressestelle: Kommunikation und Fundraising
Universität Mannheim

    Soziologen der Universitäten Mannheim und München kritisieren Null-Toleranz-Politik

    Eine mit Graffiti beschmierte Hauswand, Müll auf der Straße, ein eingeschlagenes Fenster – bereits erste Anzeichen des Verfalls eines Stadtviertels können eine Abwärtsspirale in Gang setzen und den Boden für Verbrechen wie Raub oder Mord bereiten. So die Kernthese der populären Broken-Windows-Theorie. 33 Jahre nach ihrer Veröffentlichung im US-Magazin The Atlantic ist sie umstrittener denn je. Weitere Zweifel an der Theorie nährt eine neue wissenschaftliche Studie der Soziologen Tobias Wolbring und Marc Keuschnigg.

    In ihrem 1982 veröffentlichten Essay „Broken Windows“ zeichneten der US-Kriminologe George L. Kelling und der Politikwissenschaftler James Q. Wilson das Bild eines zerbrochenen Fensters als Symbol für den physischen und moralischen Verfall eines Stadtviertels. In den 1990er Jahren diente ihre Broken-Windows-Theorie als Vorlage für das Einführen einer Null-Toleranz-Politik der New Yorker Polizei. Kleine Vergehen wie Schwarzfahren, Betteln oder Falschparken werden seitdem streng verfolgt.

    Der Erfolg scheint den Ordnungshütern recht zu geben, zumindest bei einem Blick in die New Yorker Statistik: In den vergangenen Jahren sank die Zahl der schweren Verbrechen – wie Raub, Vergewaltigung oder Mord – deutlich. So hat es in New York seit Einführung der Statistik vor 52 Jahren nie weniger Morde gegeben als 2014. Insgesamt wurden 333 Fälle erfasst. Im Jahr 1990 fielen in New York noch mehr als 2.200 Menschen einem Mord zum Opfer. Kritiker der Broken-Windows-Theorie und der Null-Toleranz-Politik führen jedoch an, dass die Mordrate vor allem wegen der positiven wirtschaftlichen Entwicklung, des demografischen Wandels sowie dem Abflauen der Crack-Epidemie gesunken sei.

    Auch wissenschaftliche Belege für eine Wirksamkeit der Null-Toleranz-Politik fehlten jahrelang oder waren zumindest nicht vollkommen belastbar. Erst 2008 konnten die niederländischen Sozialpsychologen Kees Keizer, Siegwart Lindenberg und Linda Steg bei Feldversuchen Verhaltensmuster aufzeigen, die eine Abwärtsspirale in Stadtvierteln skizzieren. Ihr Versuchsaufbau erfolgte allerdings weit entfernt vom Arbeitsumfeld von Polizisten in amerikanischen Großstädten: In einer Gasse in der Nähe einer Groninger Einkaufsstraße hatten die Forscher geparkte Fahrräder mit Werbeflyern versehen und beobachtet, wie viele der Zettel auf dem Boden landeten. Mal waren die umliegenden Hauswände sauber, mal mit einfachen Graffiti beschmiert. Waren die Wände sauber, warf nur jeder dritte Radfahrer den Zettel auf die Straße. Waren Graffiti vorhanden, waren es mit 69 Prozent schon mehr als doppelt so viele. In einem zweiten Experiment konnten Keizer und Kollegen nachweisen, dass Graffiti und Müll in der Umgebung Passanten eher dazu verleiten, zu stehlen. Vom Diebstahl eines kleineren Geldbetrags, in diesem Fall eines Briefumschlags mit Geld, zu Kapitalverbrechen wie Mord ist es sicher ein weiter Weg. Dennoch gilt die im Fachmagazin Science veröffentlichte Studie bis heute als bester empirischer Beleg für die Broken-Windows-Theorie.

    In Anlehnung an die Keizer‘schen Versuche haben die Soziologen Tobias Wolbring von der Universität Mannheim und Marc Keuschnigg von der LMU München die Experimente jetzt in München nachgestellt. Wie beim Experiment Keizers tendierten die Münchener Passanten eher dazu, die Werbeflyer auf den Boden zu werfen, wenn dort bereits Müll lag. Auch die Bereitschaft, bei Rot die Ampel zu überqueren stieg bei beobachtbaren Normbrüchen anderer Passanten. „Wenn der erste Normverstoß – zum Beispiel das Vermüllen – geschehen ist, sinkt die Hemmschwelle für weitere Regelverstöße“, erklärt Wolbring. Nachahmeffekte zeigten sich bei den Feldversuchen Keuschniggs und Wolbrings – so das überraschende Ergebnis – dabei vor allem in sozial stärkeren Stadtvierteln. „Ein äußerer Reiz, wie das Platzieren von Müll, wirkt umso stärker, wenn er in Gegenden angewandt wird, in denen man es nicht erwarten würde“, sagt der Mannheimer Forscher. Die Broken-Windows-Theorie scheint also dort besonders gut zu funktionieren, wo eine Verbrechensprävention am wenigsten benötigt wird.

    In einem weiteren Versuch untersuchten Keuschnigg und Wolbring, ob eine verwahrloste Umgebung Passanten dazu verleitet, nicht nur kleinere Regelverstöße zu begehen, sondern kriminell zu werden. Hierfür platzierten die Forscher vor Briefkästen frankierte und adressierte Briefumschläge, durch deren Fenster man einen 5-, 10- oder 100-Euro-Geldschein sehen konnte. „Es zeigt sich, dass sich die Passanten – sobald es wirklich um eine höhere Summe geht – nicht mehr von schwachen Umweltreizen leiten lassen“, erklärt Wolbring. „Ob die Gegend verwahrlost ist oder nicht: Die Zahl derer, die den 100-Euro-Brief stehlen, verändert sich nicht.“ Die Beobachtungen der Wissenschaftler legen also nahe, dass zerbrochene Fensterscheiben oder das Herumliegen von Müll zwar weitere, kleinere Regelverstöße provozieren können, aber nicht zwangsläufig zu kriminellen Handlungen wie Diebstahl, Raub oder Mord führen. Eine Abwärtsspirale, wie in der Broken-Windows-Theorie prognostiziert, lasse sich daher wissenschaftlich nicht belegen, so der Forscher der Universität Mannheim. Das Verhalten der Passanten habe sich vor allem in den Vierteln zum Schlechteren verändert, an denen man es per se nicht erwartet hätte. „Vor allem Bürger, die in sozial gehobenen Stadtvierteln leben, verändern bei äußeren Reizen wie Vermüllung oder anderen Anzeichen eines Verfalls, ihr Verhalten. Der Ansatz der Polizei, vor allem in so genannten ‘Problemvierteln‘ bereits kleinste Vergehen hart zu bestrafen, erscheinen mir vor dem Hintergrund unserer Ergebnisse zumindest fragwürdig“, so Wolbring.

    Hintergrund: „Broken Windows – Broken Lives“ – Proteste gegen Polizeigewalt

    Auch wenn amerikanische Großstädte heute sicherer sind als noch vor 20 Jahren, bleibt die Null-Toleranz-Politik weiter heftig umstritten: So demonstrierten in den vergangenen Monaten allein in New York, Atlanta, Boston, Chicago und Washington tausende US-Bürger gegen Polizeigewalt. Als Protestruf skandierten die Demonstranten unter anderem: „Broken windows! Broken lives!” Ausgelöst wurden die Unruhen durch die Tötung mehrerer afroamerikanischer Bürger, unter anderem die Erschießung von Michael Brown in Ferguson und den gewaltsamen Erstickungstod von Eric Garner in New York. Nach einer Analyse der Tageszeitung USA Today, die sich auf Zahlen des FBI stützt, wurden von 2007 bis 2012 im Schnitt 96 Schwarze pro Jahr von weißen Polizeibeamten getötet.

    Die „Stop-and-Frisk“-Strategie der New Yorker Polizei steht seit Jahren in der Kritik, da sie vor allem auf Minderheiten abzielt: Von 4,4 Millionen gestoppten und durchsuchten Personen zwischen Januar 2004 und Januar 2012 waren 84 Prozent Schwarze und Latinos, lediglich 16 Prozent waren weiß. Insgesamt führten nur sechs Prozent aller 4,4 Millionen Fälle auch zu Verurteilungen. 2013 erklärte ein US-Bundesgericht die “Stop-and-Frisk“-Praxis der Polizei für verfassungswidrig. Die Bürgerrechtsgruppe Center for Constitutional Rights hatte geklagt. Anfang März erließ das New York Police Department neue, detaillierte Richtlinien, nach der eine Durchsuchung ab sofort nur noch bei begründetem, individualisierten Verdacht zulässig ist. Gemäß der neuen Richtlinie ist es Polizeibeamten nicht länger erlaubt, Personen zu durchsuchen, nur weil sie sich in einer sogenannten „High Crime Area“ aufhalten.

    Kontakt:
    Prof. Dr. Tobias Wolbring
    Fakultät für Sozialwissenschaften
    Universität Mannheim
    Telefon: +49-621-181-1974
    E-Mail: wolbring@uni-mannheim.de
    http://wolbring.uni-mannheim.de/


    Weitere Informationen:

    http://rss.sagepub.com/content/27/1/96.full.pdf+html


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Politik
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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