idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
17.05.2016 10:53

Impfung mit Schlamm-Bakterien reguliert Immunsystem: Alte Freunde gegen stressbedingte Erkrankungen

Annika Bingmann Pressestelle
Universität Ulm

    Die Immunisierung mit Umweltbakterien scheint Posttraumatische Belastungsstörungen sowie weitere stressbedingte Erkrankungen zu verhindern. Dies haben Forscher um Prof. Stefan Reber im Mausmodell nachgewiesen. Ihre Forschungsergebnisse stützen die so genannte Old-Friends-Hypothese: Demnach kommen entzündliche körperliche und psychische Krankheiten in Gesellschaften mit wenig Kontakt zu den Umweltbakterien, die sich beispielsweise in Gewässern oder im Schlamm finden, häufiger vor. Sollte sich der positive Effekt der "Impfung" in klinischen Studien bestätigen, wären von Posttraumatischen Belastungsstörungen bedrohte Soldaten eine mögliche Zielgruppe.

    Eine „Impfung“ mit Bakterien, die beispielsweise in Gewässern oder im Schlamm vorkommen, könnte Posttraumatischen Belastungsstörungen sowie weiteren stress- und traumaassoziierten Erkrankungen vorbeugen. Einen Fachbeitrag über die schützende Wirkung des Mycobacteriums vaccae bei Mäusen haben Forscher um Professor Stefan Reber von der Ulmer Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Fachmagazin PNAS veröffentlicht. Die Studie zeigt einmal mehr: Umweltbakterien, denen der Mensch dank moderner sanitärer Maßnahmen und Antibiotika immer seltener ausgesetzt ist, regulieren das Abwehrsystem und verhindern überschießende Immunreaktionen bei Stress. Gemäß der so genannten Old-Friends-Hypothese kommen körperliche und psychische „entzündliche“ Erkrankungen, die durch Stress ausgelöst werden, in Gesellschaften mit geringem Kontakt zu diesen Mikroorganismen vermehrt vor.

    Unsere Vorfahren waren ihnen ständig ausgesetzt: Umweltbakterien, so genannten alten Freunden („old friends“), die die körpereigene Abwehr zu tolerieren lernt. Fehlt dieser Gewöhnungseffekt, wird das Immunsystem durch jeden Reiz beziehungsweise Stressor
    aktiviert. Ob sich solche Reaktionen durch eine „Impfung“ mit inaktivierten Umweltbakterien verhindern lassen, hat die internationale Forschergruppe im Mausmodell untersucht. Für diese Vermutung gab es verschiedene Anhaltspunkte: „Bereits 2002 haben Forscher gezeigt, dass eine Atemwegsinfektion bei Mäusen durch die Immunisierung mit den Umweltbakterien abgeschwächt werden konnte – veranlasst durch die Regulierung des Abwehrsystems“, berichtet Erstautor Stefan Reber. Weitere Studien beschreiben, dass Mycobacterium vaccae eine stimmungsaufhellende Wirkung hat und eine aktive Stressbewältigung („Coping“) fördert.

    Um ihrer Forschungsfrage nachzugehen, haben die Wissenschaftler männliche Mäuse mit inaktivierten Bakterien immunisiert. Dann brachten sie diese Tiere und eine Kontrollgruppe in eine psychosoziale Stresssituation, der sie auch in freier Wildbahn begegnen können: Die Nager wurden in einen Käfig zu einer älteren, männlichen Maus gesetzt, die diesen als ihr Territorium betrachtete. Im Zuge der Revierkämpfe zeigten die „ungeimpften“ Tiere
    einen passiven Umgang mit der Stresssituation, gekennzeichnet durch unterwürfiges und ängstliches Verhalten. Außerdem entwickelten sie eine Darmentzündung. Der Effekt der „Impfung“ überraschte selbst die Wissenschaftler: „Als Beobachter konnte man sofort erkennen, welche Mäuse immunisiert worden waren. Sie zeigten fast keine Unterwürfigkeit gegenüber dem dominanten Männchen, also eine sehr aktive Stress-Bewältigungsstrategie. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe ließen sich in der Videoanalyse außerdem nur halb so viele Flucht- und Vermeidungshandlungen nachweisen“, erklärt Reber. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe zeigten die immunisierten und chronisch gestressten Mäuse außerdem weniger Ängstlichkeit und entwickelten keine Darmentzündung. Demnach scheint die Immunisierung mit dem Umweltbakterium die Stress- und Trauma-Resilienz zu fördern.

    Weitere Untersuchungen ergaben, dass sich das Darm-Mikrobiom bei allen gestressten Mäusen verändert hatte und nun Entzündungen begünstigt. Allerdings schützte die „Impfung“ mit dem Umweltbakterium und die damit einhergehende Immunregulation die behandelten Mäuse vor entzündlichen Prozessen. Dies gilt womöglich auch für psychische Erkrankungen mit entzündlicher Komponente. Sollte sich dieser Zusammenhang in klinischen Studien beim Menschen bestätigen, wären von Posttraumatischen Belastungsstörungen bedrohte Soldaten eine mögliche Zielgruppe für die Immunisierung mit Mycobacterium vaccae.

    Forscher haben bereits nachgewiesen, dass Landbewohner weniger Asthma haben und seltener an Depressionen erkranken. Ob letzterer Zusammenhang auf die „Old-Friends-Hypothese“ zurückzuführen ist, will Reber in einer Folgestudie untersuchen, für die er noch Probanden sucht.
    Weiterhin werden die Wissenschaftler prüfen, ob eine orale Gabe der inaktivierten Umweltbakterien möglich ist und welchen Effekt eine Immunisierung hat, wenn bereits eine psychische Erkrankung besteht.

    Die Co-Autorenschaft der aktuellen Studie haben Forscher der University of Colorado (Boulder, USA). Außerdem waren Wissenschaftler der University of Wisconsin (Madison, USA), der University of California (San Diego, USA) und vom University College London (UK) beteiligt.

    Kontakt: Prof. Dr. Stefan Reber: Tel.: 0731/500 61943 (oder -61942), stefan.reber@uniklinik-ulm.de

    Für die Studie zum Vergleich der Stressantwort zwischen Stadt- und Landbewohnern suchen die Forscher noch gesunde Männer zwischen 20 und 40 Jahren aus Ulm und Umgebung. Die Probanden erwartet ein Stresstest, eine Blutabnahme und Fragebögen. Neben ihrem persönlichen Stressprofil erhalten die Teilnehmer eine Aufwandsentschädigung. Kontakt: sascha.hackl@uni-ulm.de, till.boebel@uni-ulm.de


    Weitere Informationen:

    http://www.pnas.org/content/early/2016/05/11/1600324113.abstract


    Bilder

    Im Experiment zeigten Mäuse, die nicht mit Mycobacterium vaccae immunisiert worden waren, unterwürfige Verhaltensmuster (links im Bild)
    Im Experiment zeigten Mäuse, die nicht mit Mycobacterium vaccae immunisiert worden waren, unterwürfi ...
    Foto: Reber
    None

    Prof. Stefan Reber forscht an der Ulmer Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Prof. Stefan Reber forscht an der Ulmer Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychoth ...
    Foto: Uniklinik Ulm
    None


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Medizin, Psychologie, Tier / Land / Forst
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).