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25.03.2019 14:31

Zeitchaos im deutschen Kaiserreich: Historikerin erforscht Einführung von Einheitszeiten um 1900

Dipl.-Journ. Constantin Schulte Strathaus Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

    Die auf EU-Ebene laufende Debatte um die Abschaffung der Zeitumstellung zeigt: Eine Festlegung von Zeit per Gesetz genügt nicht, es bedarf auch ihrer Akzeptanz und Umsetzung im Alltag. Welche Auswirkungen die Einführung von Einheitszeiten auf das Leben der Menschen im deutschen Kaiserreich um 1900 hatte, untersucht derzeit die Historikerin Dr. Caroline Rothauge für ihre Habilitation. Sie ist Akademische Rätin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU).

    Mit der sprichwörtlichen deutschen Pünktlichkeit war es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts noch nicht weit her: Wer innerhalb Deutschlands reiste, musste seine Uhr oft umstellen, denn jeder Ort hatte seine eigene, als „natürlich“ bezeichnete Zeit, die sich nach dem Stand der Sonne richtete. Ein erster Versuch zur Vereinheitlichung waren sogenannte „mittlere Mittage“, die quasi als lokale Zeitzonen in Preußen oder in den süddeutschen Staaten Bayern, Baden und Württemberg galten. Mit der zunehmenden Bedeutung der Eisenbahn und somit auch des Reisens für einen größeren Teil der Bevölkerung gab es weitere Koordinierungsversuche. Diese gingen zunächst jedoch nicht von der deutschen Regierung, sondern von den Eisenbahngesellschaften aus: Nach den „mittleren“ lokalen Zeiten richtete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch der „innere Dienst“ der deutschen Eisenbahnen. „In der Praxis sorgten diese Bemühungen, mehr Einheitlichkeit zu schaffen, allerdings zunächst für eine gesteigerte Vielfalt an Zeitangaben“, betont Rothauge. Der Eisenbahnbeamte beispielsweise arbeitete nach einem System doppelter Zeitrechnung, sah er doch im Dienst auf seiner Taschenuhr eine andere Zeit als die, die auf den Bahnhofsuhren entlang der Strecke angezeigt wurde.

    Sowohl das Eisenbahnwesen als auch der zunehmende Schiffsverkehr führten auf globaler Ebene 1884 zur Internationalen Meridian-Konferenz von Washington, auf der - von Greenwich ausgehend - die Erde in 24 Zeitzonen eingeteilt wurde, die jeweils 15 Längengrade umfassen. Sieben Jahre später dann forderte Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke im deutschen Reichstag die Einführung einer nationalen Einheitszeit, da die Vielfalt der Ortszeiten im Ernstfall eine schnelle Mobilmachung des Militärs behindern würde. Am 1. April 1893 verordnete Kaiser Wilhelm II. seinen Untertanen schließlich per Gesetz die „Mitteleuropäische Zeit“ als Standardzeit für das gesamte Reich. „Die gesetzliche Einführung der Einheitszeit ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, dass ein Schalter umlegt wurde. Für die damalige Bevölkerung bedeutete dies eine erhebliche Umstellung, sowohl privat als auch beispielsweise im Arbeitsleben“, sagt Historikerin Caroline Rothauge. Es gebe viele Hinweise, dass in den folgenden Jahren herkömmliche Formen des Umgangs mit Zeit nicht über Nacht obsolet geworden seien, sondern sich die Zeitgenossen vielmehr weiterhin danach richteten. So orientierte sich eine „Tafel zur Stellung einer Uhr“, die der Familienzeitschrift „Daheim“ im Jahr 1900 beilag, in einem ersten Schritt nach wie vor an dem Stand der Sonne zur Mittagszeit. Eine zweite Tabelle half den Lesern dabei, die Vielzahl an Ortszeiten in "Mitteleuropäische Zeit" umzurechnen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass „Versuche temporaler Vereinheitlichung, die – aus heutiger Sicht – verwirrende Vielfalt der Zeitangaben zunächst vergrößerte“, so Rothauge.

    Mit der gesetzlichen Einführung einer reichsweiten Einheitszeit wurde Zeit verstärkt auch zu einer Ware: Die Berliner „Normal-Zeit GmbH“ beispielsweise versuchte sich nicht nur auf dem preußischen Markt mit Anlagen zu etablieren, die Uhren über elektrische Impulse zentral zu koordinieren versprachen. Kunden der Firma waren unter anderem Eisenbahngesellschaften, die Berliner Börse, Firmen wie Krupp, Schulen, Uhrmacher, aber auch Privatpersonen. Allerdings waren die Anlagen technisch noch nicht ausgereift und die elektrischen Netzwerke störungsanfällig, so dass es zu zahlreichen Beschwerden kam. Dies zeigt der Nachlass des Direktors der Berliner Sternwarte, Wilhelm Foerster, deutlich.

    Die verwirrende Vielfalt von Zeitangaben wurde durch die Gepflogenheiten in der Arbeitswelt weiter potenziert: „Um 1900 existierte kein Normal-Arbeitstag, der für alle Gewerbearten und Beschäftigte sämtlicher Berufsgruppen gültig gewesen wäre. Arbeiter kämpften daher ebenso für kürzere wie für geregelte Arbeitszeiten“, erläutert Rothauge. In vielen Industriebetrieben war weiterhin die 12-Stunden-Schicht mit einer zweistündigen Mittagspause üblich, in der die Arbeiter nach Hause gingen. Angesichts der sich vergrößernden Entfernungen zwischen Arbeitsstätte und Wohnort plädierten einige Arbeiter jedoch für die Einführung der sogenannten "englischen Arbeitszeit", die nicht nur weniger Arbeitsstunden, sondern auch eine nur halbstündige Mittagspause vorsah. Einzelne Unternehmer forderten Ähnliches, beispielsweise Ernst Abbe von der Firma Carl Zeiss in Jena, der sich für den 8-Stunden-Tag neben sozialpolitischen Erwägungen aufgrund von Berechnungen zur Produktivität einsetzte.

    Im Siemens Archiv wiederum entdeckte Rothauge Quellen, die zeigen, dass hier um 1900 überraschenderweise eine beinahe unglaubliche Vielzahl an Arbeitszeiten die Regel war, „um nicht zu sagen: ein Chaos gleichzeitiger Pluritemporalität“, so die Historikerin. „Arbeitsordnungen galten nicht für die gesamte Firma oder einen bestimmten Standort, sondern für einzelne Werkstätten oder Büros. Dies führte zu vielen Konflikten, weil die Arbeiter bzw. die Beamten und späteren Angestellten sich nicht gerecht behandelt fühlten.“ Der erste Hinweis auf einen koordinierten Versuch, die Vielfalt der Arbeitszeiten bei Siemens & Halske zu vereinheitlichen, findet sich in den Archivalien des Jahres 1902. Dennoch war es in den einzelnen Werkstätten weiterhin verbreitet, Überstunden „im Bedarfsfalle“ anzuordnen. Wie die Korrespondenz von Eisenbahnbetrieben mit Siemens illustriert, war es entsprechend schwierig, die Fahrzeiten mit den Arbeitszeiten zu synchronisieren.

    „All dies bedingte, dass Zeit sich in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1900 zu einem Thema entwickelte, dass quer durch die Gesellschaft und in unterschiedlichen Lebensbereichen zum Gesprächsstoff wurde“, so Rothauge. Dabei gibt es der Historikerin zufolge einerseits beträchtliche Parallelen zwischen der aktuellen Debatte über die Abschaffung der Umstellung von Sommer- auf Winterzeit und den Diskussionen über Zeit im späten Kaiserreich: „Die Argumente, die mit Blick auf das ,natürliche‘ Zeitempfinden angeführt werden, haben sich seitdem kaum geändert.“ Ein beträchtlicher Unterschied bestehe andererseits darin, dass es für die Zeitgenossen um 1900 noch ungewohnt war, Zeit als etwas Abstraktes zu denken. „Wir hingegen können uns heute kaum etwas anderes vorstellen, als in einer durch Zeitzonen strukturierten Welt zu leben“, meint Rothauge. Als kennzeichnend für die Diskussionen zum Thema Zeit um 1900 erachtet die Historikerin Aspekte wie Vereinheitlichung, Regulierung oder Synchronisation. Diese seien als Reaktion zu verstehen eben auf die zeitgenössisch so unterschiedlichen Vorstellungen und vielfältigen Formen des Umgangs mit Zeit, die nicht allesamt in der heute so gern bemühten „Beschleunigung“ aufgehen. „Zwar klagen vor allem Vertreter bürgerlicher Schichten um 1900 verstärkt darüber, keine Zeit zu haben. Ich würde behaupten, dies war vor allem eine Möglichkeit, sich selbst als ,modern' auszuweisen", schließt Rothauge.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Caroline Rothauge (caroline.rothauge@ku.de, Akademische Rätin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt)


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Psychologie, Verkehr / Transport
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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