Die formale Gestaltung von Einvernahmeprotokollen hat einen Einfluss auf Richter und ihre Entscheide – auch wenn der Informationsgehalt derselbe ist. Dies ergab eine gross angelegte nationale Studie der Universität Basel, an der sich 645 Richter und Richterinnen aus allen Landesteilen beteiligten. Bisher war einzig klar, dass Protokolle in Strafverfahren Fehlurteile provozieren, wenn sie Aussagen gar nicht oder fehlerhaft wiedergeben.
Einvernahmeprotokolle haben in schweizerischen Strafverfahren eine immer wichtigere Bedeutung. Im Rahmen ihrer Studie legten die Juristin und Kriminologin Prof. Nadja Capus sowie die Soziologin lic. phil. Franziska Hohl Zürcher den befragten Richtern Ende 2013 inhaltlich identische Protokolle in vier formal unterschiedlich gestalteten Versionen vor. Dabei zeigte sich, dass Richter die Aussagen einer beschuldigten Person als weniger überzeugend und plausibel einschätzen, wenn die Fragen konfrontativ protokolliert sind – zum Beispiel mit einer Formulierung wie «Anerkennen Sie diesen Sachverhalt als richtig?» statt «Was sagen Sie dazu?»
Überraschend war für die Forscherinnen, wie stark ein konfrontativer Befragungsstil die Richter an der ordnungsgemässen Durchführung der Befragung zweifeln lässt. In ihren Antworten stuften sie solche Befragungen als deutlich weniger fair, weniger umfassend und weniger kompetent ein als Befragungen in offenem Stil. Staatsanwälte und Polizisten, die sich im Protokoll als harte und konfrontative Befrager darstellen, sollten laut den Forscherinnen also vorsichtig sein: Das könnte den konträren Effekt bewirken und dazu führen, dass ihre Kompetenz als Befrager angezweifelt wird.
Auswirkungen auf Urteile
Die Studie ist Teil des Forschungsprojekts «Strafverfahren im Wandel», das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird. Laut den Wissenschaftlerinnen tragen die Resultate dazu bei, eine wichtige Forschungslücke zu schliessen: Denn was Beschuldigte oder Zeugen in der Befragung bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft aussagen, ist für die spätere Urteilsfindung von Bedeutung. Was sie aber tatsächlich gesagt haben, wissen die Richter nicht – diese wissen einzig, was im Schriftprotokoll der Einvernahme steht.
Theoretisch haben Richter zwar die Möglichkeit, die Zeugen vor Gericht zu laden und sie selber zu befragen, um sich einen möglichst unverfälschten Eindruck zu verschaffen. Aber das kostet Zeit und Geld und wird zudem von der 2011 in Kraft getretenen Eidgenössischen Strafprozessordnung nicht favorisiert. Entsprechend hat in den letzten Jahren die Bedeutung der Schriftprotokolle zugenommen und jene der gerichtlichen Einvernahmen abgenommen.
Protokollierung kaum geregelt
Die Resultate der Studie sind auch angesichts dessen zu werten, dass die Protokollierung in der Schweiz gesetzlich nur rudimentär geregelt ist. Über wichtige Fragen, die auf richterliche Entscheide einen Einfluss haben können, entscheiden Polizisten, Staatsanwälte und ihre Protokollführer autonom. Vorschriften gibt es kaum, so etwa zu folgenden Punkten: Werden sämtliche Fragen des vernehmenden Polizisten oder Staatsanwalts mitprotokolliert oder nicht? Kommen nachträglich geäusserte Präzisierungen oder Korrekturen der vernommenen Person ins Protokoll? Sollen emotionale Regungen und nonverbale Statements vermerkt werden?
Zu dieser Studie findet am Donnerstag, 13. November 2014, um 17.15 Uhr, eine Veranstaltung an der Juristischen Fakultät der Universität Basel (Pro-Iure-Auditorium, Peter-Merian-Weg 8, Basel) statt.
Originalbeitrag
Nadja Capus, Franziska Hohl Zürcher
Richtertätigkeit vor dem Rechtsprechen: Das Lesen der Einvernahmeprotokolle. Resultate einer Befragung von Richterinnen und Richtern zu Einvernahmeprotokollen im Strafverfahren
In: «Plädoyer», Magazin für Recht und Politik, Heft 6/2014 (erscheint demnächst).
Weitere Auskünfte
Prof. Dr. iur. Nadja Capus, Juristische Fakultät der Universität Basel, Tel. +41 (0)61 267 25 32, E-Mail: nadja.capus@unibas.ch
lic. phil. Franziska Hohl Zürcher, Juristische Fakultät der Universität Basel, Tel. +41 (0)61 267 25 41, E-Mail: franziska.hohl@unibas.ch
https://protokollforschung.ius.unibas.ch - Projekt Strafverfahren im Wandel/ Einvernahmeprotokolle an der Universität Basel
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, all interested persons
Language / literature, Law
transregional, national
Research projects, Research results
German
You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.
You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).
Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.
You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).
If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).