Georgien ist vielfältig symbolisch aufgeladen. Mit Georgien verbindet sich die Vorstellung von einem Raum, in dem die mythische Antike nachlebt, der heute aber auch emblematisch ist für die spannungsvollen geopolitischen Verschiebungen in Ost- und Südosteuropa seit dem Ende des Sowjetimperiums. Zum heute noch vielfach mythisierten, symbolisch und affektiv aufgeladenem Bild Georgiens am Schnittpunkt von Okzident und Orient gehört ein aus Ost wie West oft benanntes Beharrungsvermögen, die Fähigkeit, die Eigenheiten der eigenen Kultur ungeachtet aller Eroberungen und heterogenen Einflüsse zu bewahren. Fernand Braudel war mit seiner These, die Georgier seien das beste Beispiel für die »Beständigkeit der erdverbundenen Völker«, gleichsam der traditionellen russischen Sicht gefolgt und hatte Georgien in der Geschichtslosigkeit der kaukasischen Bergwelt verortet.
Die Abschlusstagung des als Kooperationsprojekt zwischen der Staatlichen Ilia Universität Tbilissi und dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin durchgeführten Projekts verfolgt ein doppeltes Ziel:
Die Tagung bietet erstens die Gelegenheit, für die Projektarbeit so zentrale theoretische Konzepte wie Kulturelle Semantik oder Pathosformel (Aby Warburg) interdisziplinär auf ihre Produktivität für konkrete kulturwissenschaftliche Untersuchungen hin neu zu befragen. Unter dem Stichwort der »Kulturellen Semantik« fassen wir generell Prozesse der Produktion und Zuschreibung, des Austausches und des Wandels sowie des Nachlebens von Bedeutungen in unterschiedlichen historischen und kulturellen Konstellationen. Im Hinblick auf die kulturelle Semantik des Raumes wird danach gefragt, durch welche Mechanismen topographische Figuren zu Pathosformeln werden können, in denen nicht nur unterschiedliche Perspektiven synchron aufeinandertreffen, sondern verschiedene Bedeutungsschichten über Systembrüche hinweg als Ausdruck von Verhandlung, Akzeptanz, Ablehnung, subversiver Affirmation bzw. Polemik untersucht werden können.
Ein zweiter Schwerpunkt der Tagung ist der kulturellen Semantik Georgiens zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer gewidmet. Ausgehend von russischen (imperialen), georgischen (nationalen) und abchasischen (minoritären) Beispielen soll – auch in interkultureller Perspektive – diskutiert werden, welche kulturellen Semantiken dem Kaukasus und dem Schwarzen Meer bzw. konkreten oder auch mythischen Orten (wie etwa der Russisch-Georgischen Heeresstraße oder der Kolchis) aus verschiedenen Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeiten zugeschrieben wurden und weiterhin werden. Ausgangspunkt ist die These, dass der Topos des Kaukasus als eines einheitlichen symbolischen Raumes, ein Topos, der von der russischen (literarischen und politischen) Romantik erfunden wurde, nicht mehr greift. Ins Blickfeld rücken die aus dem Zerfall dieses imaginären einheitlichen Raumes resultierenden geopoetischen und geopolitischen Neuorientierung.
Dabei können so verschiedene Fragen aufgeworfen werden wie etwa: das Meer als Ort der Sehnsucht oder des Schreckens (Thalassophobie); der Berg (der Kaukasus) als Ort der Rückständigkeit und Geschichtslosigkeit; Ambivalenzen der Genealogie (Autochtonie, die sowjetische Politik der ›Einwurzelung‹); Raum und Eros: symbolische Landnahme durch Verführung, Vergewaltigung, Ehe; der nostalgische (imperiale) Raum; Ambivalenzen der Gastfreundschaft, unterschiedliche Strategien der kulturellen Abgrenzung und Zuschreibung (vor allem zwischen Georgien und Abchasien) u. a.
PROGRAMM
Donnerstag / Thursday, 19.02.2015
14.00
Begrüßung / Welcome
Sigrid Weigel (ZfL), Giga Zedania (Tbilisi)
14.30–16.00
Kulturelle Semantik. Theoretische Zugänge / Cultural Semantics. Theoretical Approaches
Zaal Andronikashvili (ZfL): Einführung. Kulturelle Semantik Georgiens
Introduction. Cultural Semantics of Georgia
Martin Treml (ZfL): Warburgs Pathosformel im Kontext der mythologischen Bilder des Schwarzmeerraumes
Warburg’s Pathos Formula in the Context of Mythological Images of the Black Sea Region
16.30–18.00
Kulturelle Semantik und ihr historischer Index / Cultural Semantics and Their Historical Index
Stefan Troebst (Leipzig): Saloniki, Salónica, Selânik, Solun, Sãrunã, Thessaloniki. Zur erinnerungskulturellen Semantik einer (vormals) multiethnischen Hafenmetropole
Saloniki, Salónica, Selânik, Solun, Sãrunã, Thessaloniki: The Semantics of Cultural Memorialization in a (Former) Multi-Ethnic Port Metropolis
Hannah Baader (Florenz): Ani. Geographie als Praxis im Transkaukasus
The Medieval City of Ani. Geography as Praxis in the Transcaucasus
18.15
Nino Doborjginidze (Tbilisi): Paradigmen der Akkulturation und Inkulturation aus sprachwissenschaftlicher Perspektive am Beispiel Georgiens
Paradigms of Acculturation and Inculturation from a Linguistic Perspective. The Example of Georgia
Freitag / Friday, 20.02.2015
11.30–12.30
Kulturelle Semantik des Kaukasus I / Cultural Semantics of the Caucasus I
Kevin Tuite (Montreal): The Cult of St. George in the Caucasus
Der Kult des heiligen Georgs im Kaukasus
14.00–15.30
Kulturelle Semantik des Kaukasus II / Cultural Semantics of the Caucasus II
Oliver Reisner (Tbilisi): Concepts of Area Studies along the Eastern Black Sea Coast in the 1920s
Konzepte der Area Studies entlang der östlichen Schwarzmeerküste in den 1920er Jahren
Sebastian Cwiklinski (ZfL): Kaukasus-Semantik des aserbaidschanischen und nordkaukasischen Exils der Zwischenkriegszeit
Caucasian Semantics of the Azerbaijani and North Caucasian Interbellum Exile
16.00–17.30
Emzar Jgerenaia (Tbilisi): Die Semantik des Berges aus abchasischer Perspektive
Semantics of the Mountain from an Abkhazian Perspective
Giorgi Maisuradze (Tbilisi): Der georgische antirussische Affekt. Genese und Wandel
The Georgian Anti-Russian Affect: Genesis and Change
18.00 Abendvortrag / Evening Talk
Susan Layton (Edinburgh): Our Italy. Georgia in Nineteenth-century Russian Literature and Travel Writing
Unser Italien. Georgien in der russischen Literatur und Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts
Samstag / Saturday, 21.02.2015
10.00–11.30
Kulturelle Semantik des Schwarzen Meeres / Cultural Semantics of the Black Sea
Eka Tchkoidze (Tbilisi): Making the Black sea a »Russian« sea. Batumi in the imperial context
Das Schwarze Meer zu einm »Russischen« machen. Batumi im imperialen Kontext
Nino Tchichinadze (Tbilisi): The Pontic Greeks in the Context of the Cultural Semantics of the Black Sea
Die Pontischen Griechen im Kontext der kulturellen Semantik des Schwarzen Meeres
12.00
Kulturelle Semantik der Kolchis / Cultural Semantics of Colchis
Claude Haas (ZfL): »Wilde Gegend mit Felsen und Bäumen«. Kolchis im deutschen Drama
»A wild place, with rocks and trees«. Colchis in German Drama
Franziska Thun-Hohenstein (ZfL): Vom »furchtbaren und zauberhaften Land« zum sowjetischen Paradies. Die Kolchis in der russischen Literatur
From a »terrifiying and magical land« to Soviet Paradise. Colchis in Russian Literature
Hinweise zur Teilnahme:
Anmeldung ist nicht nötig.
Termin:
19.02.2015 ab 10:00 - 21.02.2015 18:00
Veranstaltungsort:
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Schützenstr. 18, 10117 Berlin-Mitte,
3. Etage, Trajekte-Tagungsraum
10117 Berlin
Berlin
Deutschland
Zielgruppe:
Studierende, Wissenschaftler
E-Mail-Adresse:
Relevanz:
international
Sachgebiete:
Kulturwissenschaften, Sprache / Literatur
Arten:
Vortrag / Kolloquium / Vorlesung
Eintrag:
12.01.2015
Absender:
Sabine Zimmermann
Abteilung:
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZFL)
Veranstaltung ist kostenlos:
ja
Textsprache:
Deutsch
URL dieser Veranstaltung: http://idw-online.de/de/event49612
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