Die von der Bundesregierung geplante Gesundheitsreform schwächt das Solidarprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dadurch wächst das Risiko, dass das System der GKV längerfristig in Konflikt mit dem europäischen Kartellrecht geraten könnte. Zu diesem Ergebnis kommt Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg in einem Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung.
Das geplante "GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz" (GKV-WSG) bringe Veränderungen, die "jede für sich gesehen, keinen fundamentalen Systemwechsel bedeuten", schreibt der Rechtswissenschaftler. Sie verstärkten aber die Tendenz zu "einer schleichenden Verdünnung des Solidarprinzips". Für die GKV mit ihrer staatlich geregelten Sonderstellung könne diese Entwicklung europarechtliche Konsequenzen haben. Denn bislang gelten die Krankenkassen wegen des von ihnen verfolgten Solidarprinzips nicht als Unternehmen im wettbewerbsrechtlichen Sinne und sind deshalb von den Bestimmungen des europäischen Kartellrechts ausgenommen. Grund für diese Ausnahme: Es wird davon ausgegangen, dass "der freie Wettbewerb von Versicherungsunternehmen" den Solidarausgleich zwischen gesunden und kranken, jungen und alten sowie Versicherten mit niedrigerem und höherem Einkommen "nicht gewährleisten könnte", so Kingreen.
Als potenziell problematisch stuft der Experte drei Regelungen im Gesetzesentwurf ein:
=> Die Bestimmung über Selbstbehalte der Versicherten, weil sie ein bislang kollektiv versichertes Risiko individualisierten: "An die Stelle solidarischer Finanzierung nach Maßgabe der individuellen Leistungsfähigkeit tritt die Privatfinanzierung nach Maßgabe der Leistungsinanspruchnahme. Wegen ihrer Wechselwirkung mit den dafür erbrachten Prämienleistungen der Krankenkassen sind sie nur für tendenziell gesunde und junge Menschen attraktiv. Je nach Ausgestaltung von Selbstbehalt und Prämie profitieren zudem Besserverdienende in stärkerem Maße als Schlechterverdienende", resümiert Kingreen.
=> Die Möglichkeit zur Beitragsrückerstattung, wenn Versicherte keine Leistungen der Versicherung abgerufen haben. Auch Beitragsrückerstattungen relativierten den Solidarausgleich -zwischen Gesunden und Kranken sowie zwischen jungen und alten Versicherten. "Nicht betroffen ist zwar das Verhältnis zwischen Besser- und Schlechterverdienenden ", analysiert der Jurist. "Geschwächt wird aber der Solidarausgleich zwischen Alleinstehenden und Familien, weil Beitragsrückerstattungen auch davon abhängig gemacht werden, dass volljährige mitversicherte Kinder keine Leistungen in Anspruch nehmen."
=> Regelungen zur Steuerfinanzierung des Solidarausgleichs in der GKV. "Wenn und soweit" dieser Ausgleich "aus dem System ausgelagert wird, ist das System selbst nicht mehr solidarisch", gibt Kingreen zu bedenken. "An die Stelle der Binnensolidarität der Sozialversicherung tritt die Außensolidarität der Steuerzahler für eine nur noch nach dem Versicherungsprinzip handelnde Sozialversicherung." Allerdings sei die Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der Krankenkassen bislang und auch nach den Planungen für das GKV-WSG noch "verhältnismäßig gering ". So stünden 1,5 Milliarden Euro aus Steuermitteln einem Finanzaufwand von 25,7 Milliarden Euro allein für die beitragsfreie Mitversicherung von Familienmitgliedern gegenüber.
An welchem Punkt die "Verdünnung des Solidarprinzips" die europäischen Kartellbehörden auf den Plan rufen könnte, sei kaum zu prognostizieren, betont der Wissenschaftler. Gerade deshalb sei es aber riskant, Neuregelungen isoliert zu betrachten. Kingreen empfiehlt eine "Gesamtschau aller Veränderungen und die Analyse der kumulativen Auswirkungen auf bestimmte Personenkreise" wie sie auch die kartellrechtliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) präge. "Diese Gesamtschau lässt es als zunehmend fraglich erscheinen, ob die gesetzlichen Krankenkassen nach wie vor durch Verneinung ihrer Unternehmenseigenschaft dem Einfluss des europäischen Kartellrechts entzogen werden können."
Völlig klar sei, dass eine Umstellung der Kassenfinanzierung auf Pauschalprämien die GKV vor europarechtliche Probleme stellen würde: "Die von der CDU/CSU ins Gespräch gebrachte einheitliche Gesundheitsprämie, bei der der Solidarausgleich weitgehend auf die Gesamtgesellschaft verlagert würde, wäre ohne Zweifel das Ende des Solidarprinzips in der Sozialversicherung", so Kingreen.
http://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/320_84961.html - Pressemitteilung mit Ansprechpartnern und Link zur Studie
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