Mit dem Ziel, die gesellschaftliche Debatte zum Thema Intersexualität
zu enttabuisieren, vorherrschende, gesellschaftlich festgelegte
Geschlechtsnormen zu hinterfragen und die Diskussion über die
gesellschaftliche Akzeptanz intersexueller Menschen anzustoßen, hat
der Deutsche Ethikrat am vergangenen Mittwoch sein "Forum Bioethik"
dem Thema "Intersexualität - Leben zwischen den Geschlechtern"
gewidmet.
Mit dem Begriff Intersexualität oder Zwischengeschlechtlichkeit
werden viele unterschiedliche Phänomene nicht eindeutiger
Geschlechtszugehörigkeit mit jeweils verschiedenen - z. B.
chromosomalen oder zellulären - Ursachen beschrieben.
Die Wissenschaft betrachtet die Intersexualität meist als eine
Störung der Geschlechtsentwicklung, die Betroffenen selbst sehen sich
als eine Variante der möglichen Geschlechter. Der Umgang mit der
Intersexualität berührt eine Reihe medizin-, rechts- und
sozialethischer Fragen, insbesondere das Recht auf körperliche
Unversehrtheit. Ratsmitglied Michael Wunder diskutierte gemeinsam mit
Lucie Veith und Claudia Kreuzer vom Verein Intersexuelle Menschen e.
V., der Psychoanalytikerin Hertha Richter-Appelt vom
Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, der Rechtswissenschaftlerin
Konstanze Plett von der Universität Bremen und der Medizinethikerin
Claudia Wiesemann von der Universität Göttingen.
Hertha Richter-Appelt stellte in einem einführenden Referat
verschiedene Varianten von Intersexualität vor. Sie konstatierte,
dass mit der zunehmenden Kritik an den früheren Behandlungsmaßstäben
bei der medizinischen Versorgung Intersexueller inzwischen auch die
ethische Diskussion über Geschlechtszuweisung und medizinische
Intervention bei Intersexualität konkreter und lebendiger geworden
sei. Mit Blick auf den künftigen Umgang mit Intersexualität mahnte
sie an, die betroffenen Personen mit einzubeziehen, statt sie "über
ihren Kopf hinweg einem Geschlecht zuzuordnen und dann auch noch zu
verlangen, dass sie in einer bestimmten Rolle und sich selbst als
Mann oder Frau erlebend, durchs Leben gehen."
Konstanze Plett zufolge lasse sich sowohl aus dem Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland als auch aus der Menschenrechtskonvention
des Europarates und dem Kinderrechteübereinkommen der Vereinten
Nationen ableiten, "dass intersexuell geborene Menschen auch ein
Recht auf ihre je eigene sexuelle Identität haben". Konstanze Plett
sprach sich dafür aus, geschlechtszuweisende Eingriffe einer
richterlichen Genehmigung zu unterwerfen und die Verzahnung von
Zivil- und Strafrecht sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu
forcieren.
Lucie Veith und Claudia Kreuzer benannten die Probleme, mit denen
sich intersexuelle Menschen konfrontiert sehen, und forderten im
Namen des Vereins Intersexuelle Menschen e. V., ein Verbot von nicht
lebens- oder gesundheitsnotwendigen Eingriffen ohne die informierte
Einwilligung der Betroffenen Menschen zu erlassen, verbindliche
Behandlungsstandards zu schaffen, das Thema Intersexualität in die
Lehrpläne der Schul- und Berufsausbildung aufzunehmen, geschädigte
Betroffene zu entschädigen und zu rehabilitieren und den Begriff
"Intersexualität" in geltendes Recht einzuarbeiten.
Claudia Wiesemann stellte die von der Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk
Intersexualität erarbeiteten ethischen Grundsätze und Empfehlungen
vor. Oberste Priorität hätten das Wohl des Kindes und zukünftigen
Erwachsenen, das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Beteiligung
bzw. Selbstbestimmung bei Entscheidungen sowie die Achtung der
Eltern-Kind-Beziehung.
Im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion stand zunächst die
Frage, wie sich das Mitbestimmungsrecht minderjähriger Kinder konkret
umsetzen lässt und wie man mit dem Dilemma umgeht, dass mangels
Vergleichbarkeit weder die Behandlung noch die Unterlassung einer
Behandlung und die jeweiligen Folgen für die Betroffenen in einer
wissenschaftlichen Standards genügenden Form untersucht werden
könnten.
Die folgende, für das Publikum geöffnete Diskussionsrunde entzündete
sich vor allem an der Frage, weshalb insbesondere Mediziner den
derzeitigen Diskurs bestimmen, obwohl das Problem von
gesellschaftlicher Tragweite ist. Mehrere Teilnehmer forderten, nicht
den Menschen der Gesellschaft anzugleichen, sondern umgekehrt die
Gesellschaft zu ändern. Die Betroffenen sahen insbesondere die
Politik in der Pflicht, die Diskriminierung intersexueller Menschen
zur Kenntnis zu nehmen und umgehend etwas dagegen zu unternehmen.
Insbesondere die derzeitige Praxis der geschlechtszuweisenden
Eingriffe wird als eine Verletzung ihres Rechts auf Schutz des
(intersexuellen) Geschlechts und der Menschenwürde angesehen, die
durch die Politik unter Einbeziehung der Betroffenen dringend neu
geregelt werden sollte.
Der Deutsche Ethikrat diskutierte in seiner Plenarsitzung am 24. Juni
über die Veranstaltung und den weiteren Umgang mit der Thematik. Mit
der Veranstaltung hat man den Betroffenen ein großes öffentliches
Forum geboten und einen wichtigen Impuls für die weitere Debatte in
der Politik und der Öffentlichkeit gegeben. Damit kommt der Ethikrat
seinem Auftrag nach, die Öffentlichkeit über kontroverse Themen zu
informieren und die Diskussion darüber in der Gesellschaft zu
fördern. Der Ethikrat wird das Thema weiter beobachten und im Rahmen
der Diskussion über das künftige Arbeitsprogramm darüber entscheiden,
ob und in welchem Umfang das Thema weiter bearbeitet werden soll.
Weitere Informationen sowie Audiomitschnitt, Fotos und in Kürze auch
die Simultanmitschrift sind unter
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/intersexualita
et-leben-zwischen-den-geschlechtern abrufbar.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Philosophie / Ethik, Psychologie, Recht
überregional
Buntes aus der Wissenschaft
Deutsch
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