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26.07.2010 12:53

Leseprobleme von Grundschülern in Deutschland. Neuer Band der IGLU-Studie veröffentlicht

Christian Wißler Forschungsmarketing
Universität Bayreuth

    Bayreuth (UBT). Leseschwache Kinder erhalten in Deutschland nicht im erforderlichen Umfang eine schulische Förderung. In größerem Ausmaß als lesestarke Kinder sind sie in der Schule von Gewalterfahrungen betroffen. Dies sind nur einige Ergebnisse, die in dem jetzt erschienenen dritten Berichtsband der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) vorgestellt werden. Die IGLU-Studie, die seit 2001 im Turnus von fünf Jahren durchgeführt wird, untersucht Lesekompetenzen am Ende der 4. Jahrgangsstufe in 45 Ländern und Regionen. Deutschland hat sich 2006 zum zweiten Mal daran beteiligt.

    Aus dieser internationalen Vergleichsuntersuchung (IGLU 2006) und einer nationalen Erweiterungsstudie (IGLU-E 2006) sind Daten von 7.899 Schülerinnen und Schülern in Deutschland hervorgegangen. Sie ermöglichen repräsentative Aussagen über diejenigen Kinder im deutschen Schulsystem, die am Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe stehen. Zu den Herausgebern und Autoren des dritten Bands gehört Sabine Hornberg, Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bayreuth. Als Projektleiterin hat sie die Erhebung und Auswertung der Daten für IGLU 2006 und IGLU-E 2006 wesentlich vorangetrieben.

    Grade der Lesekompetenz: Definitionen

    Grundlegend für die IGLU-Studie ist die Unterscheidung zwischen fünf Stufen der Lesekompetenz (I bis V): "Leseschwache" Kinder (I und II) sind selbst in günstigen Fällen nur in der Lage, altersgemäßen Texten vereinzelte Informationen zu entnehmen. Sie gelangen nicht zu einem vertieften Verständnis inhaltlicher Zusammenhänge. "Leseschwierigkeiten" (III) liegen vor, wenn die Kinder zwar Informationen im Text auffinden und zueinander in Beziehung setzen können, aber steigenden Leseanforderungen in ihrer weiteren schulischen Laufbahn nicht gewachsen sind. "Lesestarke" Schülerinnen und Schüler (IV und V) können die Hauptgedanken eines Textes erfassen und wiedergeben. Bei ausgezeichneter Lesekompetenz erstreckt sich diese Fähigkeit nicht nur auf die Darstellung konkreter Handlungsabläufe, sondern auch auf abstrakte Sachverhalte. Die Kinder können das Gelesene in Beziehung zu eigenen
    Erfahrungen und Wissensbeständen setzen.

    Deutschland im internationalen Vergleich

    Auf den ersten Blick steht Deutschland im Vergleich mit anderen europäischen Ländern keineswegs schlecht da. Der Anteil der lesestarken Kinder der 4. Jahrgangsstufe beträgt in Deutschland 52,7 Prozent; allein in Russland ist dieser Anteil signifikant höher. 34,8 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland haben Leseschwierigkeiten. 12,5 Prozent gehören zur Gruppe der Leseschwachen; nur in den Niederlanden ist dieser Anteil signifikant geringer. Auffällig sind regionale Unterschiede: In Thüringen, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen zählen mehr als 60 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler zu den Lesestarken; hingegen bilden die Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen mit 41,5 Prozent das Schlusslicht in dieser Gruppe.

    Zentrale Bedeutung des familiären Umfelds

    Sind die Haushalte, in denen die Kinder aufwachsen, so gut ausgestattet, dass sie hier Anregungen zum Lesen erhalten? Werden die Kinder von den Eltern dabei unterstützt, eigene kulturelle Aktivitäten zu entwickeln; wird ihre schriftsprachliche Ausdrucksfähigkeit zuhause gefördert? Und sind die Eltern aufgrund ihres Leseverhaltens den Kindern ein Vorbild? Die im dritten Berichtsband der IGLU-Studie vorgelegten Ergebnisse sind in allen diesen Fragen eindeutig: Sie belegen, welche zentrale Bedeutung ein günstiges familiäres Umfeld für die Entstehung von Lesekompetenz hat – und damit auch für Erfolgserlebnisse im Schulalltag, für eine nachhaltige Motivation zum Lernen, für die Persönlichkeitsentwicklung insgesamt.

    Mangelnde schulische Förderung leseschwacher Kinder

    Die IGLU-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass im Durchschnitt aller Bundesländer nur rund 30 Prozent der Kinder mit Leseschwäche eine besondere Förderung in der Schule erfahren. Der Anteil leseschwacher Kinder, die außerhalb der Schule Nachhilfeunterricht erhalten, ist hingegen deutlich höher – nach Angaben der Kinder liegt er bei über 40 Prozent. "Die Bildungspolitik hat, was die Ausweitung schulischer Förderangebote betrifft, in Deutschland einen erheblichen Nachholbedarf", erklärt Hornberg. "Im Jahr 2007 hat sich die KMK, also die Ständige Konferenz der Kultusminister, auf Grundsätze zur Förderung von Kindern verständigt, die besondere Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen haben. Es ist höchste Zeit, dass diese Vorgaben bundesweit konsequent umgesetzt werden."

    Einflüsse der sozialen Herkunft auf die Lesekompetenz.
    Fernsehkonsum als Risikofaktor

    Weil schulische Förderangebote vielerorts fehlen, hat die soziale Herkunft einen umso stärkeren Einfluss auf die Lesekompetenz. In der Gruppe der Lesestarken ist der Anteil der Kinder von Akademikern, Beamten, Angestellten im oberen und mittleren Dienst sowie von Technikern überdurchschnittlich hoch (51,2 Prozent), in der Gruppe der Leseschwachen liegt er weit unter dem Durchschnitt (30,6 Prozent). Hornberg: "Im internationalen Vergleich sieht es so aus, als ob es in Deutschland weniger als in anderen Ländern gelingt, die durch das soziale Umfeld bedingten Benachteiligungen durch das Bildungssystem zu kompensieren." Ungünstig wirkt sich in Deutschland – auch hierzu legt IGLU konkrete Zahlen vor – ein Migrationshintergrund aus. Leseschwache Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund sind in kultureller und sozialer Hinsicht deutlich benachteiligt gegenüber leseschwachen Kindern, deren Eltern in Deutschland geboren sind.
    Ein Risikofaktor ist der Fernsehkonsum: 59,1 Prozent der leseschwachen Kinder, aber nur 9,8 Prozent der lesestarken Kinder gaben an, täglich mehr als 3 Stunden fernzusehen. 29,6 Prozent der leseschwachen Kinder antworteten, dass sie täglich sogar mehr als 5 Stunden vor dem Fernseher verbringen.

    Lesekompetenz und Gewalterfahrungen in der Schule

    Nahezu 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler erklärten, dass sie gern in die Schule gehen. Dies trifft fast gleichermaßen auf alle Gruppen zu. Aber bei der Frage, ob sie sich in der Schule sicher fühlen, unterscheiden sich die Antworten signifikant: 60,3 Prozent der Lesestarken, aber nur 40,4 Prozent der Kinder mit Leseschwierigkeiten fühlen sich in der Schule sicher. Bei den Leseschwachen liegt der Anteil sogar nur leicht über 30 Prozent (32,7 Prozent bei den Legasthenikern, 31 Prozent bei den anderen leseschwachen Kindern). Mehr als die Hälfte der Kinder mit Leseproblemen bejahten die Frage: "Bist du im letzten Monat in der Schule verletzt oder geschlagen worden?" Und mehr als 20 Prozent dieser Kinder erklärten, sie seien von einem anderen Schüler unterdrückt und gequält worden.
    "Es gibt eine unverkennbare Korrelation zwischen dem Grad der Leseschwäche und dem Ausmaß persönlicher Gewalterfahrungen in der Schule", erklärt Hornberg. "Die Ursachen dafür müssen aufgeklärt werden. Möglicherweise bewirken entmutigende, durch Leseprobleme bedingte Misserfolge eine ängstliche Grundhaltung, die sich nicht zuletzt auch in der Körpersprache ausdrückt. Das könnte dazu beitragen, dass diese Kinder in der Schule öfter zum Opfer von Gewalttaten werden."

    Veröffentlichung:

    Wilfried Bos, Sabine Hornberg, Karl-Heinz Arnold, Gabriele Faust, Lilian Fried, Eva-Maria Lankes, Knut Schwippert, Irmela Tarelli, Renate Valtin (Hrsg.):
    IGLU 2006 – die Grundschule auf dem Prüfstand. Vertiefende Analysen zu Rahmenbedingungen schulischen Lernens, Münster et al. 2010

    darin:
    Renate Valtin, Sabine Hornberg, Magdalena Buddeberg, Andreas Voss, Magdalena E.
    Kowoll, Britta Potthoff:
    Schülerinnen und Schüler mit Leseproblemen – eine ökosystemische Betrachtungsweise, S. 43 - 90

    Kontaktadresse für weitere Informationen:

    Prof. Dr. phil. habil. Sabine Hornberg
    Professur für Allgemeine Pädagogik
    Universität Bayreuth
    95440 Bayreuth
    Telefon: +49 (0)921 / 55-4111 und 55-4128
    E-Mail: sabine.hornberg@uni-bayreuth.de


    Bilder

    Prof. Dr. Sabine Hornberg ist seit 2008 Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bayreuth. Zuvor war sie am Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund tätig.
    Prof. Dr. Sabine Hornberg ist seit 2008 Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bayr ...
    Foto: Chr. Wißler; zur Veröffentlichung frei.
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Sabine Hornberg ist seit 2008 Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bayreuth. Zuvor war sie am Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund tätig.


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