Sie stand am Anfang einer spezifisch europäischen Musik: Die einstimmige Musik des lateinischen Mittelalters. Wissenschaftler der Universität Würzburg arbeiten seit Kurzem an einer Edition dieser Kompositionen. Das Ergebnis werden sie in 25 Bänden veröffentlichen. 16 Jahre soll die Arbeit daran dauern.
Was macht ein Musiker, dessen Noten plötzlich keine Notenlinien mehr enthalten? Der keine Takt-striche mehr findet – und unterschiedliche Notenlängen schon gleich gar nicht. Wenn er nicht improvisieren will, klappt er wahrscheinlich sein Heft zusammen, packt sein Instrument wieder ein und verlässt die Bühne. Denn auf dieser Basis kann er wohl kaum vernünftig musizieren.
Vor den gleichen Problemen steht bisweilen der Würzburger Professor Andreas Haug. Haug ist Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft II am Institut für Musikforschung der Universität; dort leitet er das Editionsprojekt „Corpus monodicum“. Ein Projekt von wahrlich gewaltigen Ausmaßen: In den kommenden 16 Jahren wollen Haug und seine Mitarbeiter die bislang noch nicht erschlossenen Bestände der einstimmigen kirchlichen und weltlichen Musik des europäischen Mittelalters, die in Latein verfasst sind, in einer auf 25 Bände angelegten Reihe publizieren.
Schwierige Übersetzung der Notenschriften
Und dabei muss sich Haug eben auch mit den Problemen mittelalterlicher Notenschriften beschäftigen. „Wir kennen viele ganz verschiedene Arten von Notenschriften. Je nach Zeit und Ort ihrer Herstellung variieren diese mehr oder weniger stark“, sagt Haug. Ganz frühe Aufzeichnungen sind für die Wissenschaftler häufig nicht lesbar: Wenn Notenlinien und -längen fehlen, ist es nicht möglich eine Melodie zu erschließen.
Jüngere Handschriften lassen sich besser interpretieren: „Bei ihnen haben die Schreiber in der Regel Linien ins Pergament geritzt, die später auch noch eingefärbt wurden, und eine Tonhöhe notiert“, sagt Haug. Diese Angaben versetzen die heutigen Musikwissenschaftler in die Lage, die mittelalterlichen Werke in eine moderne Notenschrift zu übertragen.
Eine weltweit einzigartige Handschriftensammlung
Haug und seine Mitarbeiter können für ihre Forschung auf eine weltweite einzigartige Sammlung von rund 4500 mittelalterlichen Musikhandschriften zugreifen, die im Archiv des Instituts für Musikforschung lagert. Nicht im Original, aber immerhin auf Mikrofilm. Zusammengetragen hat sie der Erlanger Musikwissenschaftler Bruno Stäblein seit den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Stäblein ist dafür jahrelang kreuz und quer durch Europa gereist und hat in vielen Bibliotheken noch selbst zum Fotoapparat gegriffen.
Haug, ein später Nachfolger Stäbleins auf dessen Erlanger Lehrstuhl, hat das Archiv nach Würzburg mitgebracht, als die musikwissenschaftlichen Institute aus Erlangen und Bamberg nach Würzburg umzogen. Ein „singuläres Gut“ und ein „bedeutender Standortfaktor“ stellt die Sammlung in Haugs Worten heute für die Universität Würzburg dar.
Kirchliche Lieder und ein wenig Erotik
Kirchliche Lieder und Gesänge bilden den Großteil der Sammlung – Musik für kirchliche Rituale mit festgelegten Funktionen in lateinischer Sprache. Sie geben häufig biblische Texte wieder, teilweise im Original, teilweise in einer Neudichtung in Prosa oder in Versform. Nicht die Gemeinde sang diese Lieder während des Gottesdienstes; sie wurden vielmehr in Klöstern und Kathedralen von speziell ausgebildeten Klerikern vorgetragen. Eine Begleitung durch Instrumente gab es nicht. „Musikinstrumente spielen in der gottesdienstlichen Musik dieser Zeit praktisch keine Rolle. Ihr Gebrauch galt als heidnisch“, erklärt Haug.
Weltliche Lieder finden sich nur wenige in den Handschriften. Auch bei ihnen handelt es sich um reine Kompositionen für Gesang – vorgetragen von Kantoren, solistisch oder in kleinen Gruppen. Die Themen sind die gleichen wie in den meisten heutigen Pop-Songs: „Es waren in der Regel Liebeslieder erotischen Inhalts“, sagt Haug.
Die Vorgehensweise der Musikwissenschaftler
Den Text notieren, die Musik in die heutige Notenschrift übertragen, die Geschichte der Handschrift wiedergeben, die Inhalte inventarisieren und dokumentieren: So sieht die Arbeit der Musikwissenschaftler für das Corpus monodicum aus. „Wir gehen mit einer historischen Fragestellung an die Kompositionen heran und versuchen sie in ihrer Machart und Logik zu verstehen“, sagt Haug. Dabei arbeiten die Forscher unter anderem eng mit Experten für eine historische Aufführungspraxis zusammen, beispielsweise der Hochschule für Alte Musik in Basel – der Schola Cantorum Basiliensis.
Überhaupt ist „Zusammenarbeit“ ein wichtiges Stichwort im Zusammenhang mit dem Corpus monodicum. „Es ist ein großes Team, das an dieser Edition arbeitet“, sagt Haug. Da ist zum einen natürlich er selbst, der das Projekt leitet; dann gibt es den Wissenschaftlichen Beirat, in dem Musik-wissenschaftler aus fünf Ländern vertreten sind. Auf vier festen Stellen kümmern sich Nachwuchs-wissenschaftler in den nächsten 16 Jahren um die mittelalterlichen Handschriften, dazu ein Archivar, jede Menge Doktoranden und Studierende, die hier ihre Examensarbeiten schreiben können. „Das Programm strahlt stark in die Graduiertenausbildung ein“, sagt Haug.
Kontakte ins Ausland und in die Uni
Auch international ist das Interesse an dem Projekt groß: „Wir haben regelmäßig Gäste aus dem Ausland am Institut, die eigens wegen unseres Archivs hierherkommen“, sagt Haug. Manche, wie derzeit eine Musikwissenschaftlerin aus den USA, bleiben dafür sogar bis zu einem Jahr in Würzburg.
Auch zu Kollegen innerhalb der Universität hat Haug Kontakte geknüpft, beispielsweise zu Professor Fotis Jannidis, dem Inhaber des Lehrstuhls für Computerphilologie und Neuere Deutsche Literaturgeschichte. Dessen einer Schwerpunkt lautet „Digital Humanities“oder anders formuliert: angewandte Informatik für die Geisteswissenschaften. Die Zusammenarbeit zwischen Musikwissenschaftlern und Computerphilologen bietet sich an; immerhin plant Haug zumindest Teile des Corpus monodicum in ein paar Jahren auch in digitaler Form anzubieten. Das könnte allerdings ein steiniger Weg werden: „Noch gibt es, was das digitale Format betrifft, mehr Fragen als Lösungen“, sagt er.
Öffentliche Vorstellung mit Musikbeispielen
Wer mehr über das Editionsprojekt Corpus monodicum wissen möchte; wer hören will, wie einstimmige Musik des lateinischen Mittelalters klingt: Der hat demnächst dazu Gelegenheit. Am Montag, 24. Oktober, findet in der Neubaukirche der Universität Würzburg der Festakt zum offiziellen Start des Projekts statt. Dort wird Andreas Haug eine Übersicht über das Vorhaben geben. Anschließend werden zwei international führende Interpreten alter Musik, Dominique Vellard und Gerd Türk, Beispiele einstimmiger Musik des Mittelalters vortragen. Diese Veranstaltung ist öffentlich, der Eintritt ist frei.
Das Editionsprojekt
Corpus monodicum ist ein Teil des Akademienprogramms, das Bund und Länder seit 1979 gemein-sam finanzieren. Angesiedelt ist es unter dem Dach der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz hat vor knapp einem Jahr beschlossen, das Editionsprojekt mit rund vier Millionen Euro zu fördern.
Ziel ist es, maßgeblich zu einer vollständigen Erschließung des Gesamtbestands europäischer Ein-stimmigkeit beizutragen. Mit dieser soll ein philologisch fundiertes Gesamtbild der musikalischen Hinterlassenschaft des Mittelalters gewonnen werden, „eines kulturellen Erbes, das die Kultur Europas seit der Karolingerzeit entscheidend mitgeprägt hat“, wie es in einer Pressemitteilung der Akademie heißt. Als Grundlagenforschung trage das Vorhaben zur Erkenntnis der Musik- und Kulturgeschichte insgesamt bei und strebe an, eines der größten Defizite der Musikmediävistik zu beseitigen.
Kontakt
Prof. Dr. Andreas Haug, T: (0931) 318 2114, E-Mail: andreas.haug@uni-wuerzburg.de
Professor Andreas Haug, Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft II, mit einer mittelalterlichen ...
Foto: Gunnar Bartsch
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Musik / Theater
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Forschungsprojekte
Deutsch
Professor Andreas Haug, Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft II, mit einer mittelalterlichen ...
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