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10.11.2011 15:14

Das Bürgerbild in politischen Reden - Aktuelle Studie der Universität in Koblenz

Bernd Hegen Referat Öffentlichkeitsarbeit
Universität Koblenz-Landau

    Was halten Politiker von den Bürgern? Um dies herauszufinden, wurden im Rahmen einer Studie des Seminars Medienwissenschaft der Universität in Koblenz in Kooperation mit dem Verband der Redenschreiber deutscher Sprache in Königswinter zehn Reden analysiert. Diese Reden haben Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Joachim Gauck, der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, der Bundesminister des Auswärtigen Amts Dr. Guido Westerwelle, der Bundesminister der Finanzen Dr. Wolfgang Schäuble sowie der damalige Bundesminister des Inneren Dr. Thomas de Maizière zwischen 2010 und 2011 gehalten. Die Auswahl erfolgte nach symptomatischen Gesichtspunkten, d.h. nach besonderen Anlässen und ihrem Presseecho ausgewählt, nicht nach repräsentativen Aspekten. Daher zeichnen die Ergebnisse Tendenzen nach und sollen vor allem die Diskussion anregen. Bei der Untersuchungsmethode handelt es sich um eine qualitative Analyse von Begriffen, Inhalten und Bedeutungsrahmen („frames“).

    Das Bürgerbild der Politiker ist laut der Studie diffus bis widersprüchlich. Diffus, weil der Begriff „Bürger“ heute selten ein herausragendes Merkmal zu haben scheint - "Mensch" und "Bürger" werden fast immer synonym gebraucht. Widersprüchlich, weil verschiedene Perspektiven miteinander vermengt werden – mal ist der Bürger Teil des „Staates“, mal steht er diesem hilflos gegenüber. Will der "Bürger" Versorgung und Sicherheit, hat er es mit dem Versorgungsstaat zu tun; ist er nur ein Mündel, dann ist der Vormundstaat am Werk und ist er Beitragsbürger, greift der Sozialstaat ein. Es sind diese "Staaten", welche Politiker oft mit „Wir“ meinen.

    Die Analyse zeigt, dass der Bürger in den Augen der Politiker einerseits ein widerspenstiges Kind ist, das, noch unmündig, der Anleitung bedarf und andererseits ein Versorgungsempfänger wie auch Leistungserbringer. Dieselbe Vorstellung von Bürgern als unmündigen Menschen kommt darin zum Ausdruck, dass Politiker die Menschen immer "mitnehmen" oder "abholen", als ob sie fortlaufend in Vater- oder Mutterrolle schlüpfen wollten, also in Rollen derer, die wissen, „wo’s lang geht“.

    Bürger dürfen nicht überfordert werden, die Regierung ist Führerin, Retterin und Geberin: „Wir haben natürlich … wichtige Weichenstellungen vorgenommen … eine Kreditklemme verhindert … Familien mehr Kindergeld gegeben … eine Rekordsumme … in die Infrastruktur gesteckt“, zitiert Prof. Dr. Helmut Ebert von der Universität in Koblenz und Mitautor der Studie eine Rede Merkels.

    Ein weiteres Ergebnis der Analyse: Es fällt Politikern schwer, im Bürger die Lösung eines Problems zu sehen. Vielmehr sehen sie ihn als Teil ihrer Probleme. In dieser Rolle erscheint der Bürger eben nicht als „Bürger“, sondern als von der Bürokratie atomisiertes Anspruchs-, Forderungs- und Förderungs-Subjekt: "Steuerzahler", "Ältere", "Alleinerziehende", "Erwerbstätige", "Erwerbslose", "sozialversicherungspflichtig Beschäftigte" etc.

    Damit zerfällt der Bürger in die ihm aus Abteilungssicht der Ministerien zugedachte Rollenvielfalt. Da die Bürger als Menschen unpolitisch gedacht werden, reagieren diese aus Sicht der Politiker wie Kinder mit "Verdrossenheit", Apathie oder Wut.

    Die Menschen müssen anscheinend gelobt und auch bestraft werden, wie Kinder zu Hause oder Mitarbeiter im Betrieb. Damit dieselben Bürger sich für ihr Land einsetzen, müssen sie motiviert werden. Freiwillig – so der Umkehrschluss – geschieht das offensichtlich nicht. Wenn Politiker von „ehrenamtlich engagierten Bürgern“, so Joachim Gauck, sprechen, dann überwiegt wieder das wohlfahrtsstaatliche Denken von „Ämtern“ – man gibt der selbstbestimmten Ehren-Arbeit einen Anstrich vom fremdbestimmten „Ehrenamt“. Verbände und Parteien sind „gute“ Personenvereinigungen, Bürgerinitiativen erscheinen hingegen als "suspekte" Personenvereinigungen. Der Bürger als ein Mensch, der sich engagiert, ist willkommen und geachtet, wenn er sich im Rahmen eines fremdbestimmten „ehrenamtlichen“ Engagements betätigt. Seine jeweiligen spezifischen Kompetenzen interessieren Politik und Staat weniger als die Möglichkeit, dem Bürger Merkmale zuzuweisen, die dessen reibungslose administrative Beherrschung garantieren. Auffallend ist ferner, dass den Bürgern kaum Handlungsprädikate zugesprochen werden. Die wenigen Handlungsprädikate sind: „wählen“, „entscheiden“, „sich in Beziehung zu anderen setzen“, „sich mit ihrem Staat identifizieren“, „Verantwortung übernehmen“, „mitwirken am Ganzen“ und „Widerstand leisten“.

    Fasst man die Reden zusammen, dann zeichnen sich nach Ebert vier große Tendenzen ab: (1) der Bürger als Fragezeichen, d. h. als ein schwer fassbares und womöglich sich aus der Geschichte verabschiedendes Subjekt, (2) der Bürger als widerspenstiges Kind, das belehrt und über seine eigenen Interessen aufgeklärt werden muss, (3) der Bürger als Empfänger staatlicher materieller und immaterieller Gaben sowie als Beitragszahler für das Gemeinwohl, (4) der Bürger als Mensch, der Freiheit fürchtet aber Freiheit braucht, um sich und die Gemeinschaft zu entwickeln.

    Ansprechpartner:
    Prof. Dr. Helmut Ebert
    Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz
    Institut für Kulturwissenschaft
    Seminar Medienwissenschaft
    Universitätsstr. 1
    56070 Koblenz

    Tel.: 0261 / 287-2194
    E-Mail: hebert@uni-koblenz.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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