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15.03.2012 10:30

»Von einer sicheren Arzneitherapie im Alter sind wir weit entfernt.«

Barbara Ritzert ProScience Communications - die Agentur für Wissenschaftskommunikation GmbH
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e.V.

    »Schmerz gehört nicht zwangsläufig zum Alter«, sagt der Ludwigshafener Schmerztherapeut Dr. Oliver Emrich auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag in Frankfurt. Eine ausreichende Schmerzbehandlung ist sogar ethische Verpflichtung, denn allzu häufig schränkt vorwiegend der Schmerz den Aktionsradius alter Menschen ein und macht sie depressiv. Doch bei der Auswahl von Medikamenten müssen Ärzte die körperlichen und psychischen Besonderheiten dieser Altersgruppe berücksichtigen.

    Eine repräsentative Untersuchung in sechs europäischen Ländern belegt, dass knapp 70 Prozent der über 75-Jährigen unter Schmerzen leiden, 50 Prozent geben an, in ihrer Mobilität eingeschränkt zu sein. Das auch bei den Betroffenen selbst verbreitete Vorurteil, dass Schmerz eben zum Alter gehört, ist mit dafür verantwortlich, dass viele dieser alten Menschen keine adäquate Schmerztherapie erhalten. »Dies hat schlimme Folgen«, erklärt Dr. Oliver Emrich, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie. »Denn häufig nehmen in diesen Fällen auch die mit Schmerz assoziierten objektiven Behinderungen zu«, berichtet der Ludwigshafener Schmerztherapeut. Die körperlichen, sozialen und psychologischen Fähigkeiten der Betroffenen werden zusätzlich beeinträchtigt. Es entsteht eine fataler Kreislauf: Die Schmerzen und ihre Auswirkungen verursachen nicht nur Leid, sondern auch Angst und Depression, die wiederum den Schmerz verstärken.

    ALTE SCHMERZPATIENTEN UNTERVERSORGT.

    Den Folgen schlecht oder gar nicht behandelter Schmerzen wird zu wenig Beachtung geschenkt. »In Pflegeheimen wird, falls überhaupt, am häufigsten mit dem Aufkleben eines Schmerzpflasters reagiert«, weiß Emrich. »Es ist kaum bekannt, dass Symptome wie Depression und Angst, Schlafstörungen, Gewichtsverlust und Störungen der Kognition mit Schmerz einhergehen können, ja mitunter sich sogar als »Schmerz« phänomenologisch äußern.« Bei alten Menschen und Heimbewohnern wird der Schmerz aber kaum je mal regelhaft gemessen oder erfasst, obwohl dies auch bei Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen möglich wäre. Selbst wenn der ältere Mensch kognitiv nicht mehr in der Lage ist, eine Schmerzskala zu bedienen oder seinen Schmerz zu verbalisieren, gibt es mittlerweile standardisierte Messinstrumente, die sich auf Beobachtung und Fremdurteil durch Angehörige und Behandler stützen. Sogar bei dementen Patienten ist es möglich Schmerz und die damit verbunden Phänomene zu messen.

    PROBLEM MEHRFACHERKRANKUNGEN UND ZU VIELE ARZNEIMITTEL.

    Doch nicht nur die schmerzmedizinische Unterversorgung älterer Menschen bereitet den Experten Sorgen. Erschwert wird die medikamentöse Therapie im Alter durch Mehrfacherkrankungen und die Kombination einer Vielzahl von Medikamenten. Zwar leiden Menschen mit zunehmendem Alter weniger häufig unter Migräne und Kopfschmerzen. Doch dafür treten andere chronische Erkrankungen mit ihren oft schmerzhaften Folgen und Begleiterscheinungen in den Vordergrund: Diabetes, Herzschwäche, Bluthochdruck, Gefäßerkrankungen, Gelenkerkrankungen oder Osteoporose.

    »Alte Patienten kommen regelhaft mit nicht weniger als acht gleichzeitig verordneten Medikamenten aus einer Klinik zurück«, weiß Emrich, der auch als Hausarzt tätig ist. Den Behandlern, ob in Klinik oder Praxis, ist dabei die Wechselwirkung gleichzeitig eingenommener Medikamente häufig kaum bewusst. Gerade Schmerzmittel bergen im Alter besondere Risiken bezüglich der Magen-Darmverträglichkeit oder bezüglich Schwindel und Sturzgefahr, sind aber andererseits unverzichtbar zum Erhalt von Aktionsradius und Lebensqualität.

    »Wir brauchen leitliniengestützte Hinweise für eine sichere Arzneitherapie im Alter, die sich an den subjektiven Beschwerden orientiert und Wirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente beachtet«, fordert die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie. Zwar seien die besonderen Risiken antientzündlicher Pharmaka (NSAR) oder die Probleme von Antidepressiva im Alter hinreichend bekannt, doch sie würden wenig beachtet. »Zu viele Medikamente können Senioren mehr schaden als nutzen«, sagt Emrich. Bei drei Medikamenten lassen sich Wechsel- und Nebenwirkungen noch abschätzen, bei acht Arzneien hingegen kaum noch.

    Dies bringt eine Fülle von Problemen mit sich. »Häufig versorgen Angehörige die älteren Menschen noch in gutem Glauben mit Johanniskraut, Gingko und Grapefruitsaft, um nur drei Beispiele zu nennen«, sagt der Ludwigshafener Schmerztherapeut. Dies kann extreme Auswirkungen in Form von Wechselwirkungen und Konzentrationsveränderungen anderer Wirkstoffe im Blut nach sich ziehen. »So können einerseits die Wirkungen von Medikamenten völlig aufgehoben werden, andererseits sind toxische Neben- und Wechselwirkungen mit Todesfolge möglich. Emrich: »Von einer sicheren Arzneitherapie im Alter sind wir weit entfernt.« Hilfe versprechen sich die Ärzte von wachsenden pharmakologischen Datenbanken, in denen sich im Zweifelsfall Wechselwirkungen von Medikamenten abfragen lassen.

    HOFFNUNG GERIATRISCHE REHABILITATION.

    Alte Menschen werden durch Schmerz und Funktionseinschränkungen häufig vorzeitig immobil, behindert und hilfebedürftig. Eine ausreichende Schmerztherapie kann dazu beitragen, dass sich alte Menschen wieder altersgerecht bewegen können. Nötig sind dazu auch multimodale Programme, um die Autarkie eines alternden Menschen im Rahmen seiner Möglichkeiten zu erhalten oder wiederherzustellen. Dazu gehören nicht nur sorgfältig ausgewählte Medikamente, sondern auch geriatrische Trainingstherapie, Sporttherapie und Psychotherapie, die an die speziellen Bedürfnisse dieser Patienten angepasst sind. Im Rahmen einer so verstandenen und schmerztherapeutisch begleiteten geriatrischen Rehabilitation können mitunter Ressourcen mobilisiert werden, an die weder der Patient noch seine Angehörigen noch zu glauben gewagt hätten.


    Weitere Informationen:

    http://www.schmerz-und-palliativtag.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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