Unfallchirurgen ziehen positive Bilanz / Erste Patienten leben seit fünf Jahren mit Knochen, Knorpel, Sehnen und Bändern aus regenerativer Medizin
Täglich werden in die Unfallchirurgie Patienten eingeliefert, die beispielsweise durch Verkehrsunfälle oder Stürze schwere Schädigungen an Knie, Hüfte, Schulter oder Sprunggelenk erlitten haben. Die Rekonstruktion und Regeneration dieser verletzungsanfälligen Gelenke ist seit vielen Jahren ein Schwerpunkt der Klinik für Unfallchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Eine große Rolle spielt dabei das Tissue Engineering, also die Gewebezüchtung. Mit deren Hilfe können zum Beispiel Knorpel- und Knochenstücke aus körpereigenem Material nachgebildet und zur Behandlung von Gelenkschäden eingesetzt werden. Im Jahr 2008 Jahren bekamen die ersten Patienten an der MHH Gelenke und Knochen „aus dem Labor“. Auch nach fünf Jahren sind sowohl die Patienten als auch die Ärzte mit dem Ergebnis zufrieden.
Unter Tissue Engineering versteht man die Nachzüchtung von natürlichen Geweben im Labor. „Die Grundlage dafür sind Stammzellen mit hohem Vermehrungs- und Differenzierungspotenzial, die wir durch eine Punktion am Beckenkamm des Patienten gewinnen“, erklärt Professor Dr. Christian Krettek, Direktor der MHH-Klinik für Unfallchirurgie. „Die Zellen werden im Labor isoliert, millionenfach vermehrt und stehen dann für verschiedene Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung.“ Ein Vorteil des Tissue Engineering ist, dass das Risiko für Abstoßungsreaktionen gering ist, da es sich bei dem Transplantat um körpereigenes Gewebe handelt. Die MHH-Klinik für Unfallchirurgie hat gleich zwei ausgewiesene Experten für die Rekonstruktion und Regeneration von Gelenken im Team: Professor Dr. Michael Jagodzinski, der sich auf die innovative Behandlung von Knochen- und Knorpeldefekten spezialisiert hat, und Professorin Dr. Andrea Hoffmann, die auf dem Gebiet des Tissue Engineering forscht.
Das halbe Knie ersetzt
„Die MHH ist die einzige Klinik in Deutschland, die in der Lage ist, ganze Gelenkflächen aus körpereigenem Material zu ersetzen, in Kombination mit dem Ersatz von Gelenkknorpel und Bändern“, sagt Professor Jagodzinski. Einer der Patienten mit einem Gelenk dieser Art ist André S. Bei einem Autounfall 2006 wurde sein halbes linkes Knie zerstört. In einer Klinik in Thüringen wurde seine Wunde damals versorgt, mit der Aussicht auf ein künstliches Kniegelenk wurde er entlassen. Als er eineinhalb Jahre später in die MHH kam, hatte er immer noch starke Schmerzen und konnte nicht richtig laufen. „Sowohl im oberen als auch im unteren Teil des Kniegelenks waren Knochen und Knorpel geschädigt“, erinnert sich Professor Jagodzinski. Der Gelenkchirurg setzte André S. im März 2008 neue Knorpel, Sehnen und Gelenkflächen ein. Für die Knorpel wurden dem Patienten sechs Wochen vor der OP körpereigene Knorpelzellen entnommen und im Labor gezüchtet. Die Sehnen stammten vom Oberschenkelstreckmuskel des jungen Mannes. „Um die Knochenstücke nachzubilden, haben wir einen Knochenblock aus dem Beckenkamm herausgenommen und während der Operation mit einer speziell dafür angefertigten Kopierfräse die benötigten Teile angefertigt“, erklärt Professor Jagodzinski. Als Vorlage für die Rekonstruktion dienten Vergleichsbilder vom gesunden Knie. Etwa ein Jahr lang hatte das Team um Professor Jagodzinski diesen Eingriff vorbereitet. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen und glücklicherweise hat es bisher keine Komplikationen gegeben. „Es gab keinen Infekt, die Implantate sitzen immer noch sehr gut und die Arthrose des Patienten ist kaum fortgeschritten“, resumiert der Gelenkchirurg. Auch André S. ist mit dem Ergebnis zufrieden. Er ist froh, dass er vorerst um ein künstliches Kniegelenk, das etwa 15 Jahre hält, herumgekommen ist. „Ich komme im Alltag gut zurecht“, sagt der heute 32-Jährige, der gerade seine Diplom-Arbeit in Elektrotechnik schreibt. Damit sein Zustand weiterhin so gut bleibt, hält er sich körperlich fit. „Ich versuche, mein Körpergewicht zu halten, gehe ins Fitness-Studio und fahre Rad.“ Einmal pro Jahr kommt er zum Check in die MHH.
Knochenabschnitt im Unterschenkel ersetzt
Ähnlich erfolgreich verlief ein Eingriff bei einer älteren Patientin, die sich den Unterschenkel gebrochen und sich nach der Operation eine Infektion zugezogen hatte. Nach vielen Behandlungsversuchen stand sie vor der Wahl, das Bein amputieren zu lassen oder ständig mit starken Schmerzen zu leben. Da entschied sie sich, den Knochenabschnitt im Schienbein mit Hilfe des Tissue Engineering ersetzen zu lassen. „Dieser Patientin haben wir Rinderknochen eingesetzt, die zuvor im Labor mit körpereigenen Stammzellen besiedelt worden waren“, erklärt Professor Jagodzinski. Auch in diesem Fall können die Unfallchirurgen nach fünf Jahren eine positive Bilanz ziehen. Der Frau geht es gut, es gab keine besonderen Zwischenfälle.
Seit 2008 hat Professor Jagodzinski sieben weiteren Patienten mit Tissue Engineering zu „neuen“ Kniegelenken verholfen. „Die Methode des Tissue Engineering hat ein großes Potenzial. Langfristig können damit sicher viele krankheits- oder verschleißbedingte Organschäden therapiert werden“, sagt Professor Krettek. „Eine Behandlungsmethode für die breite Masse ist es aber noch lange nicht. Jeder Fall muss individuell betrachtet werden.“
Weitere Informationen erhalten Sie bei Professor Dr. Michael Jagodzinski, MHH-Klinik für Unfallchirurgie, Telefon (0511) 532-6746, unfallchirurgie.info@mh-hannover.de.
Professor Dr. Michael Jagodzinski, Patient André S. und Professor Dr. Christian Krettek (von links n ...
"Foto: MHH/Kaiser"
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Professor Dr. Michael Jagodzinski, Patient André S. und Professor Dr. Christian Krettek (von links n ...
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