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17.07.2013 16:45

Neues von den Geisterteilchen

Myriam Hönig, Antje Karbe Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Kooperation GERDA unter Beteiligung der Universität Tübingen setzt neue Grenzen für extrem seltenen Zerfall

    Neutrinos sind äußerst scheue Teilchen, die mit allen anderen Bausteinen der Materie nur extrem selten in Wechselwirkung treten. Sie haben ungewöhnliche Eigenschaften, und es wird sogar vermutet, dass sie mit ihren eigenen Antiteilchen identisch sind. Allerdings ist diese Eigenschaft bisher noch nicht experimentell bestätigt. Wissenschaftler der GERDA-Kooperation unter Beteiligung einer Arbeitsgruppe des Kepler Centers der Universität Tübingen konnten nun neue Grenzen setzen für den so genannten neutrinolosen Doppelbetazerfall, mit dem Wissenschaftler überprüfen, ob Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind. Das Resultat widerlegt eine frühere Entdeckungsmeldung, und es ergeben sich wichtige Folgerungen für die Kosmologie, Astrophysik und Teilchenphysik.

    Neutrinos wurden im Dezember 1930 in einem Brief von Wolfgang Pauli an eine Physikertagung, die im Gebäude der Alten Physik in Tübingen tagte, als unsichtbare Teilchen postuliert, um die im Betazerfall scheinbar verletzte Energieerhaltung zu retten. Was damals eine gewagte Hypothese war, hat sich heute zu einem Schlüssel für die Verbindung zwischen Teilchenphysik und Kosmologie entwickelt. Neutrinos sind neben Photonen die häufigsten Teilchen im Universum. Sie besitzen nur winzige Massen, die dennoch wichtige Folgen für die Strukturen im Universum haben. Sie sind die treibende Kraft bei der Explosion von Supernovae, die das Lebensende von Sternen begleiten. Ihre bemerkenswerteste und wichtigste Eigenschaft aber wurde von Ettore Majorana in den 1930er Jahren vorgeschlagen: Im Gegensatz zu allen anderen Teilchen könnten Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sein.

    Das GERDA (GERmanium Detector Array)-Experiment, das im Untergrundlabor Laboratori Nazionali del Gran Sasso des Istituto Nazionale di Fisica Nucleare in Italien betrieben wird, soll die Frage klären, ob Neutrinos tatsächlich ihre eigenen Antiteilchen sind. Untersucht werden so genannte Doppelbeta-Zerfallsprozesse des Germanium-Isotops Ge-76 mit und ohne Emission von Neutrinos – letzterer ist eine Konsequenz der Majorana-Eigenschaft. Beim normalen (einfachen) Betazerfall zerfällt ein Neutron in einem Kern in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino. Die gleichzeitige Umwandlung von zwei Neutronen unter Emission zweier Neutrinos ist möglich und wurde kürzlich im GERDA-Experiment mit bisher unerreichter Präzision gemessen. Es handelt sich um einen der seltensten jemals beobachteten Zerfälle mit einer Halbwertszeit von etwa 2*10 hoch 21 Jahren – zum Vergleich: das sind einhundertmilliardenfach so viele Jahre, wie das Universum alt ist. Falls Neutrinos Majorana-Teilchen sind, sollte der Doppelbetazerfall ohne Emission von Neutrinos ebenfalls stattfinden, und zwar mit einer noch geringeren Rate. In diesem Fall wird das Antineutrino des einen Betazerfalls vom zweiten beta-zerfallenden Neutron als Neutrino absorbiert, was nur möglich ist, wenn Neutrino und Antineutrino identisch sind.

    Zur Beobachtung des äußerst seltenen Prozesses sind sehr ausgefeilte Techniken erforderlich, um den Untergrund von kosmischen Teilchen, natürlicher Radioaktivität der Umgebung und sogar dem Experiment selbst weiter zu unterdrücken. Den Wissenschaftlern gelingt dies, indem sie die Detektoren in der Mitte einer Art riesiger ‚Thermoskanne‘ betreiben, die mit hochreinem Kupfer ausgekleidet und mit extrem reinem flüssigem Argon gefüllt ist. Sie ist von einem mit hochreinem Wasser gefüllten Tank von zehn Meter Durchmesser umgeben. Der ganze Aufbau befindet sich unter 1400 Meter Gestein. Erst die Kombination innovativer Techniken ermöglichte es, den Untergrund auf ein rekord-tiefes Niveau zu senken.

    Im Herbst 2011 starteten die Messungen. Die jetzt durchgeführte Analyse ergab kein Signal des neutrinolosen Doppelbetazerfalls in Ge-76, was zu der weltweit genauesten festgestellten Untergrenze für dessen Lebensdauer von 2,1*10 hoch 25 Jahren führt. Zusammen mit den Ergebnissen anderer Experimente schließt dieses Resultat eine frühere Behauptung, ein Signal gefunden zu haben, aus. Die neuen Resultate von GERDA haben interessante Konsequenzen: So bleibt weiterhin ungeklärt, ob zum Beispiel die Neutrinos für die Asymmetrie von Materie und Antimaterie verantwortlich sind, wie das Standardmodell der Elementarteilchenphysik zu erweitern ist und welchen Beitrag die Neutrinos zur Entwicklung des Kosmos geleistet haben. Eine zweite Phase des GERDA-Experiments soll die Grenzen weiter senken.

    GERDA ist eine europäische Kooperation, die Wissenschaftler aus 16 Forschungsinstituten oder Universitäten in Deutschland, Italien, Russland, der Schweiz, Polen und Belgien umfasst. In Deutschland sind die Max-Planck-Institute für Kernphysik in Heidelberg und für Physik in München, außerdem die Technische Universität München, die Universität Tübingen und die Technische Universität Dresden beteiligt. Die Max-Planck-Gesellschaft ist wesentlicher Geldgeber des Projekts in Deutschland; die Universitäten werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt.

    Die Arbeitsgruppe aus Tübingen hat den Wassertank, der das Experiment umgibt, zu einem Detektor für kosmische Strahlung ausgebaut. Dadurch kann erkannt werden, wenn durch kosmische Strahlung Untergundereignisse erzeugt werden, was zum Erreichen der Sensitivität auf die sehr geringe Rate unerlässlich ist. Außerdem beteiligt sich Tübingen an der Charakterisierung und Vermessung der neuen Detektoren für die zweite Messphase sowie an der Signalformanalyse, mit deren Hilfe Ereignisse des neutrinolosen doppelten Betazerfalls von Untergrundereignissen unterschieden werden können. Neben der Unterstützung durch Personalstellen der Universität wird die Tübinger Gruppe des Kepler Centers dafür vom BMBF gefördert, was einer Vielzahl von Studierenden die Möglichkeit gibt, an diesem spannenden Projekt eine Promotion durchzuführen.

    Kontakt:
    Prof. Dr. Peter Grabmayr und Prof. Dr. Josef Jochum
    Universität Tübingen
    Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
    Kepler Center for Astro and Particle Physics
    Telefon +49 7071 29-74453
    grabmayr[at]uni-tuebingen.de und josef.jochum[at]uni-tuebingen.de


    Weitere Informationen:

    http://www.mpi-hd.mpg.de/gerda/home.html - GERDA-Kooperation mit Link zur Veröffentlichung auf arXiv


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Physik / Astronomie
    regional
    Forschungsergebnisse, Kooperationen
    Deutsch


     

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