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14.10.2013 09:18

Weltweit größte Therapiestudie: Psychotherapie ist wirksam bei Magersucht

Dr. Ellen Katz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Universitätsklinikum Tübingen

    Kontinuierliche Gewichtszunahme nach Anwendung von drei Psychotherapieverfahren / Vorteile für zwei neue spezielle Therapieverfahren /Wissenschaftler der Psychosomatischen Unikliniken Tübingen und Heidelberg publizieren im „LANCET“

    Erwachsene magersüchtige Patientinnen, die nicht zu schwer erkrankt sind, können mit psychotherapeutischer Behandlung erfolgreich ambulant behandelt werden; auch nach Therapieende nehmen sie weiterhin deutlich an Gewicht zu. Zwei neue psychotherapeutische Verfahren bieten hierzu verbesserte Therapiechancen. Allerdings kann einem Viertel der Patientinnen nicht schnell geholfen werden. Dies hat die weltweit größte Therapiestudie zur Magersucht gezeigt, die heute (14.10.2013) in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde. Die ANTOP-Studie („Anorexia Nervosa Treatment of Out Patients“) wurde an zehn deutschen universitären Ess-Störungszentren unter Federführung der Abteilungen für Psychosomatische Medizin der Universitätskliniken Tübingen (Leitung: Prof. Dr. Stephan Zipfel) und Heidelberg (Leitung: Prof. Wolfgang Herzog) durchgeführt.

    Psychotherapie ist als Therapie der Wahl der Magersucht anerkannt und wird in Deutschland als Leistung der Krankenkassen bezahlt. Allerdings fehlten bislang große klinische Studien, die die Wirksamkeit verschiedener Therapieverfahren vergleichend untersuchten. Dies steht im krassen Widerspruch zur Schwere der Erkrankung.

    Die Anorexia nervosa – Magersucht: die gefährlichste psychische Erkrankung

    „Im Langzeitverlauf führt die Magersucht in bis zu 20 Prozent zum Tode – damit ist sie die gefährlichste aller psychischen Erkrankungen. Betroffene leiden zudem oft ihr ganzes Leben lang unter psychischen oder körperlichen Folgen der Magersucht“, erklärt Professor Zipfel. Überzeugende Untersuchungen zu spezifischen Therapieprogrammen fehlen bislang. Außerdem ist weitgehend ungeklärt, welche Form der Psychotherapie am effektivsten ist. „Gut kontrollierte, klinische Studien mit hoher Aussagekraft sind vor allem im ambulanten Bereich selten und bereiten große Probleme“, so Professor Herzog.

    An Magersucht leiden etwa ein Prozent der Bevölkerung; betroffen sind fast ausschließlich Mädchen oder junge Frauen. Magersüchtige Patientinnen sind sehr untergewichtig aufgrund von anhaltender Nahrungsverweigerung und häufig ausgeprägtem Bewegungsdrang. Selbst herbeigeführtes Erbrechen, der Gebrauch von Abführmitteln, harntreibenden Medikamenten oder Appetitzüglern tragen weiter zum Gewichtsverlust bei. Das Körpergewicht der Patientinnen beträgt höchstens 85 Prozent des Normalgewichtes (Body Mass Index, BMI, von weniger als 17,5 kg/m²). Die Betroffenen haben große Angst vor einer Gewichtszunahme; zudem liegt eine gestörte Wahrnehmung der eigenen Figur vor. Oft leiden sie unter weiteren psychischen Störungen wie Depression, Angst- und Zwangsstörungen.

    Behandlung durch erfahrene Psychotherapeuten in Zusammenarbeit mit Hausärzten

    Die ANTOP-Studie, bei der 242 erwachsene Patientinnen insgesamt 22 Monate (10 Monate Therapie, 12 Monate Nachbeobachtung) begleitet wurden, lässt nun erstmals wissenschaftliche Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit verschiedener Psychotherapien zu. Bei drei Gruppen von 82 bzw. je 80 Patientinnen kam jeweils ein anderes ambulantes Psychotherapieverfahren zum Einsatz. Dabei handelte es sich um zwei neue psychotherapeutische Verfahren, die speziell für die ambulante Behandlung dieser Erkrankung entwickelt worden waren, und eine optimierte Form der derzeit praktizierten Standard-Psychotherapie. Für die spezifischen Therapien wurden gemeinsam mit internationalen Ess-Störungsexperten Behandlungsmanuale entwickelt. Sie umfassten 40 ambulante Einzelsitzungen über einen Zeitraum von zehn Monaten.

    Bei allen 242 Patientinnen führten speziell ausgebildete Psychotherapeuten die Therapien mit den Patientinnen durch. Die Hausärzte waren über die Therapie informiert und in die Behandlungen eingebunden; so wurden die Patientinnen zumindest einmal pro Monat von Ihrem Hausarzt untersucht. Rund ein Drittel der Patientinnen musste wegen schlechten Gesundheitszustands vorübergehend stationär aufgenommen werden; etwa ein Viertel der Patientinnen nahmen nicht bis zum Ende an der Behandlung teil.

    Verglichen wurden die drei Psychotherapieverfahren:

    1. Die fokale psychodynamische Psychotherapie bearbeitet in Therapiesitzungen die ungünstige Gestaltung von Beziehungen sowie Beeinträchtigungen bei der Verarbeitung von Emotionen. Die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Patientin spielt dabei eine große Rolle. Sie wird speziell auf den Alltag nach Ende der Therapie vorbereitet.
    2. Die kognitive Verhaltenstherapie hat zwei Schwerpunkte: die Normalisierung des Essverhaltens und Gewichtssteigerung sowie die Bearbeitung mit der Ess-Störung verbundener Problembereiche, z.B. Defizite bei sozialer Kompetenz oder bei der Fähigkeit, Probleme zu lösen. Die Patienten erhalten auch „Hausaufgaben“ von ihren Therapeuten.
    3. Die Standard-Psychotherapie wurde als optimierte Regelversorgung von erfahrenen Psychotherapeuten durchgeführt, die sich die Patientinnen selber aussuchen konnten. Ergänzend waren die Hausärzte in die Therapie eingebunden; die Patientinnen besuchten ergänzend fünfmal das jeweilige Studienzentrum.

    Spezifische Psychotherapien bieten realistische Chancen auf eine Heilung

    Die magersüchtigen Patientinnen in allen drei Gruppen hatten nach Therapie-Ende und einem weiteren Jahr Nachbeobachtung deutlich an Gewicht zugenommen. Ihr BMI hatte durchschnittlich um 1.4 BMI Punkte (entspricht durchschnittlich 3,8 kg) zugelegt. „Insgesamt zeigten die beiden neuen Therapieformen im Vergleich mit der optimierten Standardtherapie Vorteile“, sagt Professor Zipfel. „Am Ende unserer Studie war die fokale psychodynamische Therapie am erfolgreichsten; die spezifische kognitive Verhaltenstherapie führte dem gegenüber zu einer schnelleren Gewichtszunahme.“ Außerdem mussten die psychodynamisch behandelten Patientinnen seltener zusätzlich stationär behandelt werden. Die Akzeptanz der beiden neuen Psychotherapien war bei den Patientinnen sehr hoch. Dennoch litt auch ein Jahr nach Ende der Therapie ca. ein Viertel der Patientinnen immer noch unter dem Vollbild der Magersucht.

    Die Wissenschaftler aus Tübingen und Heidelberg ziehen das Fazit: Erwachsene Patientinnen haben durch die spezifischen Therapien eine realistische Chance auf eine Heilung oder nachhaltige Besserung. Es bleiben aber große Herausforderungen für die Prävention und die frühe Behandlung der Magersucht bestehen.

    Titel der Originalpublikation
    Zipfel et al. Focal psychodynamic therapy, cognitive behaviour therapy, and optimised treatment as usual in outpatients with anorexia nervosa (ANTOP study): randomised controlled trial. The Lancet Published Online October 14, 2013 http://dx.doi.org/10.1016/ S0140-6736(13)61746-8

    See Online/Comment : Bulik CM .The challenge of treating anorexia nervosa. The Lancet http://dx.doi.org/10.1016/ S0140-6736(13)61940-6

    Medienkontakt

    Leiter der ANTOP-Studie
    Prof. Dr. med. Stephan Zipfel
    Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Tübingen
    E-Mail: stephan.zipfel@med.uni-tuebingen.de

    Ko-Leiter der ANTOP-Studie
    Prof. Dr. med. Wolfgang Herzog
    Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Universitätsklinikum Heidelberg
    Medizinische Klinik (Ludolf-Krehl-Klinik)
    E-Mail: wolfgang.herzog@med.heidelberg.de


    Weitere Informationen:

    http://www.medizin.uni-tuebingen.de Universitätsklinikum Tübuingen
    http://www.medizin.uni-tuebingen.de/Patienten/Kliniken/Medizinische+Klinik/Psych... Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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