Soeben erschien im Akademie Verlag das 400 Seiten starke Buch „Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet. NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945“.
Cornelia Briel: Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet. NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945.
Hrsg. von Hans Erich Bödeker und Gerd-J. Bötte –
Berlin : Akademie Verlag, 2013. – 407 S., 43 Abbildungen.
ISBN 978-3-05-004902-1, 69,80 €
Rezensionsexemplar via rezensionen@degruyter.com
Die zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehörende Staatsbibliothek zu Berlin hat zum ersten Mal in großer Tiefe und Breite das im NS-Staat aufgebaute Netzwerk zur Beschaffung von Literatur und deren Verteilung an deutsche Bibliotheken untersucht. Dieses Netzwerk verteilte große Mengen an Büchern, die bei so genannten Reichsfeinden und jüdischen Verfolgten beschlagnahmt worden waren, an wissenschaftliche Bibliotheken oder andere Einrichtungen in Deutschland und Österreich. Um die Rolle der Preußischen Staatsbibliothek (heute Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz) und der dort bis 1945 angesiedelten Reichstauschstelle aufzuklären, wurden in neun Archiven umfangreiche Akten studiert – dabei waren auch Erwerbungsakten der Preußischen Staatsbibliothek, welche sich kriegsbedingt in Jelenia Gora (früher Hirschberg) befinden. Insgesamt lässt die Aktenlage, die aufgrund von Kriegsereignissen lückenhaft ist, nicht zu, den Umfang der fraglichen Bestände zuverlässig anzugeben.
Die Autorin und die Herausgeber der Studie sowie die Generaldirektorin der Staatsbibliothek zu Berlin sind zuversichtlich, dass dieses Werk zahlreichen Institutionen und Personen wichtige Hinweise für die eigene Provenienzforschung geben sowie das Auffinden von unrechtmäßig erworbenen Büchern und anderen Materialien unterstützen wird.
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*** Langfassung der Meldung ***
Seit einigen Jahren untersucht die Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz ihre Sammlungen intensiv auf geraubte und damit unrechtmäßig erworbene Bücher. Diese Recherchen nach NS-Raubgut und nach Beutegut aus dem Zweiten Weltkrieg basieren auf den Vorgaben der Washingtoner Prinzipien, die durch die "Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der Kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz" und die zugehörige Handreichung auf die Gegebenheiten der Bundesrepublik Deutschland übertragen wurden.
Ein wesentlicher Aspekt in diesem Kontext ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Erwerbungs- und Verteilungspolitik der Reichstauschstelle und der Preußischen Staatsbibliothek im NS-Staat.
Die Reichstauschstelle war eine aus der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft hervorgegangene zentrale Dienstleistungseinrichtung zur Literaturversorgung in den deutschen Bibliotheken. Von 1933 bis 1945 war sie dem Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek (heute Staatsbibliothek zu Berlin) unterstellt. Zusammen mit der Preußischen Staatsbibliothek stand die Reichstauschstelle im Zentrum eines Netzwerkes, durch das erhebliche Mengen von bei so genannten Reichsfeinden und jüdischen Verfolgten beschlagnahmter Literatur an wissenschaftliche Bibliotheken und andere Einrichtungen im Deutschen Reich verteilt wurden.
Von 2006 bis 2009 führte die Staatsbibliothek zu Berlin gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Geschichte (später: MPI für Wissenschaftsgeschichte) ein von der Fritz Thyssen Stiftung und mit Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördertes Forschungsprojekt durch: Das Ziel war die umfassende Aufklärung der institutionellen Strukturen und bibliothekarischen Abläufe unter rechtlichen und finanziellen Aspekten sowie in Hinsicht auf die Handlungsspielräume der beteiligten Akteure und die politische Dimension der Vorgänge.
Aus diesem Forschungsprojekt ist eine umfangreiche Studie der Projektbearbeiterin Dr. Cornelia Briel hervorgegangen. Diese Studie ist jetzt im Akademie Verlag erschienen. Die durch zahlreiche Register erschlossene, materialreiche Publikation behandelt den Themenkomplex „Reichstauschstelle / Preußische Staatsbibliothek“ grundlegend und kann als Referenzwerk für weitere Recherchen zum Thema NS-Raubgut dienen, sowohl in der Staatsbibliothek zu Berlin als auch in anderen Bibliotheken.
Ausgewertet wurde ein außerordentlich breites Quellenspektrum: neben der archivalischen Überlieferung in der Staatsbibliothek selbst auch die einschlägigen Bestände des Bundesarchivs, des Geheimen Staatsarchivs, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, des Landesarchivs Berlin, des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam sowie des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden und des Staatsfilialarchivs Bautzen. Erstmals konnten auch die Akten der Erwerbungsabteilung der Preußischen Staatsbibliothek aus dem Zeitraum 1938-1945 herangezogen werden, die von der nach Hirschberg (heute: Jelenia Góra) in Niederschlesien ausgelagerten Dienststelle im Sommer 1945 den polnischen Behörden übergeben wurden und heute in der dortigen Außenstelle des Staatsarchivs Breslau (Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Oddział w Jeleniej Górze) aufbewahrt werden.
Die Reichstauschstelle
Wegen der langjährigen Unterbringung im Bibliotheksgebäude Unter den Linden und der personellen Verflechtungen im Leitungsbereich wurde die Reichstauschstelle von Außenstehenden als ‚der Preußischen Staatsbibliothek zugeordnet’ wahrgenommen. Sie war jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Abteilung der Bibliothek.
Die 1926 eingerichtete Reichstauschstelle gehörte zum Geschäftsbereich des Bibliotheksausschusses der 1920 gegründeten Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Im Zuge der seit 1933 von deren Präsidenten, dem Physiker Josef Stark, betriebenen "nationalsozialistischen Erneuerung" trennte sich die Notgemeinschaft (die kurz darauf in "Deutsche Forschungsgemeinschaft" umbenannt wurde) im Herbst 1933 von ihrem Bibliotheksausschuss. Die drei aus dem Bibliotheksausschuss hervorgegangenen Institutionen Reichstauschstelle, Beschaffungsamt der Deutschen Bibliotheken und Deutsch-Ausländischer Buchtausch wurden verwaltungsmäßig dem Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, Hugo Andres Krüß, unterstellt. Die Geschäftsführung oblag dem von der Preußischen Staatsbibliothek abgeordneten Bibliotheksrat Adolf Jürgens.
Ab 1941 erlangte die Reichstauschstelle eine größere Eigenständigkeit, indem sie mit dem Beschaffungsamt zu einer Reichsbehörde vereinigt wurde. Um durch Kriegseinwirkung zerstörte Bestände der deutschen Bibliotheken zu ersetzen, erwarb die Reichstauschstelle Privatbibliotheken, antiquarische und verlagsneue Literatur bis auf wenige Ausnahmen im Deutschen Reich und in den von Deutschland besetzten Gebieten durch Kauf. In den besetzten Gebieten geschah dies soweit wie möglich unter Ausnutzung der von der deutschen Besatzungsmacht oktroyierten Wechselkurse. Die Reichstauschstelle bemühte sich auch um Dubletten, die durch die Beschlagnahme privater und kirchlicher Bibliotheken in den besetzten Gebieten konzentriert worden waren. Im Deutschen Reich kaufte die Reichstauschstelle beschlagnahmte Bibliotheken und Buchbestände emigrierter oder deportierter jüdischer Deutscher, deren Eigentum von den Finanzbehörden "verwertet" wurde.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges beschäftigte die Reichsbehörde "Reichstauschstelle und Beschaffungsamt der Deutschen Bibliotheken" über 50 Personen. Im damaligen deutschen Reichsgebiet hatte sie im Rahmen des seit 1943 betriebenen Wiederaufbauprogramms etwa 40 Depots angelegt, in denen bis 1945 ca. 1.000.000 Bände eingelagert wurden.
Dem Schicksal dieser Depot-Bestände nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte die Autorin ebenfalls nachgehen. Die Ergebnisse dieser Forschungen werden demnächst als Sonderband der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie publiziert.
Die Preußische Staatsbibliothek
Trotz deutlicher kriegsbedingter Lücken in den Quellen ist die Schlüsselstellung der Preußischen Staatsbibliothek bei der Verteilung von beschlagnahmter Literatur klar dokumentiert: Durch den Erlass des Preußischen Finanzministeriums vom 27. März 1934 war sie beauftragt und ermächtigt, aus der in Preußen beschlagnahmten Literatur vorrangig ihre eigenen Bestände zu ergänzen und die von ihr selbst nicht benötigten Exemplare vornehmlich an die Universitätsbibliotheken weiterzuleiten. Damit wurde die Erwerbungsabteilung der Preußischen Staatsbibliothek zum Zentrum eines Verteilungsnetzes, das sich schließlich auf mehr als 30 deutsche und österreichische wissenschaftliche Bibliotheken erstreckte.
In den Jahren 1938 und 1939 bestimmten Erlasse des Reichsfinanzministers die Preußische Staatsbibliothek zur "zentralen Sammelstelle" für die vor allem bei jüdischen Verfolgten beschlagnahmten Hebraica und Judaica. Jedoch konkurrierte die Bibliothek in dieser Funktion bereits seit 1936 mit NS-Institutionen, die die Literatur politischer und weltanschaulicher Gegner für genuin nationalsozialistische Bibliotheksgründungen sammelten und sich mit ihren Ansprüchen zunehmend durchsetzen konnten.
Zwischen 1941 und 1944 wurden der Preußischen Staatsbibliothek auch von der Wehrmacht geraubte Bücher - vor allem aus Polen, Frankreich und der Sowjetunion - überstellt. Nach den Forschungen der Autorin steht fest, dass die Erwerbungsabteilung der Preußischen Staatsbibliothek jedoch seit 1941/1942 einer Anweisung des damaligen Generaldirektors Hugo Andres Krüß folgte, mit der er die Einarbeitung von Kriegsbeute in die Bestände untersagt hatte. Die vor allem von Januar bis März 1943 zum Teil täglich vom Oberkommando der Wehrmacht eintreffenden Sendungen von Beutegut wurden in der Bibliothek gelagert.
Die Historischen Akten der Preußischen Staatsbibliothek belegen, dass bei Kriegsende insgesamt 19.022 unbearbeitete Bände mit russischem Besitzvermerk im Gebäude Unter den Linden lagerten, diese wurden um die Jahreswende 1947/1948 der russischen Zentralkommandantur übergeben. Etwa gleichzeitig wurden weitere 20.000 Bände aus ebenfalls unbearbeitet gebliebenem Beutegut an Polen restituiert. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist damit die Hauptmasse an Beutegut zurückgegeben worden.
Die Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek und ihres Generaldirektors unterschied sich grundsätzlich von der Paul Heigls an der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien: In Berlin hielten die leitenden Beamten weitgehend an der bibliothekarischen Praxis der Dublettenvermeidung fest und verzichteten dementsprechend eher auf die Übernahme von Beständen. Diese Erwerbungsgrundsätze zusammen mit der Zurückhaltung in Bezug auf Kriegsbeute-Bestände mag erklären, warum bis heute trotz intensiver Forschungen nur 5.447 Exemplare aus dem Bestand der Staatsbibliothek als NS-Raubgut bzw. Beutegut identifiziert werden konnten. Hinzu kommt, dass fast der gesamte Bestand an Judaica und Hebraica der Preußischen Staatsbibliothek, der sicher auch geraubte Literatur enthielt, durch die kriegsbedingten Verlagerungen heute in polnischen und russischen Bibliotheken vermutet werden muss.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik
überregional
Wissenschaftliche Publikationen, Wissenschaftspolitik
Deutsch
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