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18.09.2014 16:12

Games for Health: Videospiele helfen Kindern mit schweren Bewegungsstörungen

Frank A. Miltner Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie

    So einfach kann es manchmal sein: Ausgewählte, handelsübliche Videospiele, die mit dem ganzen Körper gesteuert werden, motivieren Kinder und Jugendliche mit einer schweren Hirnerkrankung für ihre Therapie und verbessern ihren Zustand deutlich. Dies zeigt eine aktuelle Studie mit zehn Kindern und Jugendlichen, die von einer seltenen neurodegenerativen Erkrankung mit schweren Bewegungsstörungen (Ataxien) betroffen sind.

    „Nach nur acht Wochen Training zeigten sich signifikante und alltagsrelevante Verbesserungen der Krankheitssymptome unserer Patienten“, berichtete Dr. Matthis Synofzik, Oberarzt und Forschungsgruppenleiter an der Abteilung für Neurodegeneration des Hertie-Instituts für Klinische Hirnforschung am Universitätsklinikum Tübingen am Donnerstag, 18. September auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) im Rahmen der Neurowoche in München. Der Neurologe geht davon aus, dass dieses Konzept auch bei anderen Erkrankungen des Gehirns eine sinnvolle Ergänzung zur Physiotherapie sein kann.

    Bei Ataxie gilt: Wer rastet, der rostet – Computerspiele motivieren zur Bewegung

    Etwa 5000 Patienten leiden deutschlandweit an einer degenerativen Ataxie. Die unheilbare Erkrankung stört die Koordination und das flüssige Zusammenspiel von Bewegungsabläufen. Die Betroffenen gehen erst wackelig, viele sind später auf einen Rollstuhl angewiesen oder bettlägerig. Häufig sind Gendefekte oder Stoffwechselstörungen die Ursache und es kommt bereits im Kindesalter zum irreversiblen Absterben von Nervenzellen im Kleinhirn.

    „Vor diesem Hintergrund hielten die Fachleute es noch vor wenigen Jahren für sehr unwahrscheinlich, dass ein spezifisches Bewegungstraining den Zerfall deutlich bremsen könnte“, so Synofzik. Im Jahr 2009 konnten der Tübinger Forscher und seine Kollegen erstmals zeigen, dass ein intensives Koordinationstraining mit physiotherapeutischen Übungen den Krankheitsverlauf mildern kann. Doch vor allem Kindern und Jugendlichen fehlt oft die Motivation, sich physiotherapeutischen Übungen zu unterziehen. Gleichzeitig gilt: Je weniger die Betroffenen sich bewegen, desto stärker verschlechtert sich die Erkrankung.

    „Um das Motivationsproblem zu lösen, kamen wir auf die Idee mit der Spielekonsole“, so Synofzik. Mit einem handelsüblichen Gerät und drei verschiedenen, speziell ausgewählten Spielen aus dem Standardsortiment sorgten die Forscher für Abwechslung. Die Kinder mussten beispielsweise mit schwierigen Körperhaltungen Lecks in einem virtuellen Wassertank abdichten oder mit dynamischen und zielgerichteten Ausfallschritten auf leuchtende Flächen reagieren.

    Auf die richtigen Spiele kommt es an

    Diese jüngste Studie belegt erstmals, dass ein Training per Videospiel bei dieser Erkrankung wirksam ist. Die zehn teilnehmenden Kinder und Jugendlichen zwischen elf und 20 Jahren wurden dabei in den ersten beiden Wochen am Institut von einem Therapeuten bei den Übungen begleitet und angeleitet, anschließend sollten sie sechs Wochen zu Hause üben. Auf der Ataxie-spezifischen Skala SARA (Scale for the Assessment and Rating of Ataxia) verbesserte sich ihr Gesundheitszustand durch das achtwöchige Training um durchschnittlich zwei Punkte, während er sich normalerweise um etwa zwei Punkte pro Jahr verschlechtert. Die Ergebnisse sind so beeindruckend, dass sie in der angesehenen Fachzeitschrift „Neurology“ veröffentlicht wurden.

    „Alle Kinder begeisterten sich für ihr Heimtraining und absolvierten es mit großer Motivation. Sie gewannen schrittweise wieder Vertrauen in ihre eigene Bewegungsfähigkeit. Außerdem erfuhren sie motorische Erfolgserlebnisse, die sie im Alltag ansonsten kaum erzielen können“, berichtet Synofzik. Dabei sind jedoch nicht alle Spiele gleich gut geeignet. Wichtig sei unter anderem, dass die Spiele nicht nur mit den Fingern, sondern mit dem ganzen Körper, Armen und Beinen gesteuert werden, dass sie tatsächlich das dynamische Gleichgewicht trainieren, dass die motorisch beeinträchtigten Kinder nicht überfordert werden und dass die von der Spielsoftware automatisch erzeugten Kommentare und Leistungsbewertungen die Kinder nicht demotivieren.

    Zwölf Wochen Videospiel gleichen zwei Jahre Krankheit aus

    Mit ihren Untersuchungen haben die Neurologen um Synofzik womöglich eine Tür aufgestoßen, um weitere neurologische Erkrankungen per Videospiel zu behandeln. Dass die Methode auch bei bereits weit fortgeschrittenen degenerativen Ataxie-Erkrankungen funktionieren kann, wo neben dem Kleinhirn viele weitere Nervensystemanteile betroffen sind, zeigt die kürzlich im „Journal of Neurology“ veröffentlichte Fallstudie eines zehnjährigen Jungen mit Ataxia telangiectasia. Er war bereits seit sieben Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen und verbesserte sich nach zwölf Wochen Training auf einer handelsüblichen Spielekonsole um 4,4 Punkte auf der SARA-Skala – was etwa den motorischen Verlust durch zwei Jahre Krankheit kompensiert.

    Zwar handelt es sich hier nur um einen Einzelfall, gibt Synofzik zu bedenken. Die bisherigen Erfahrungen seien jedoch überaus ermutigend. „Solch ein Training ist einfach, vergleichsweise kosteneffizient, kann im eigenen häuslichen Rahmen durchgeführt werden und macht Spaß. Eine aktiv-koordinative Physiotherapie kann man dadurch wohl nicht ersetzen, es ist aber eine vielversprechende Ergänzung (physio-)therapeutischer Ansätze.“

    Störungen der Koordination, des Gleichgewichts und des Bewegungsablaufs treten außer bei Ataxien zum Beispiel auch bei der Multiplen Sklerose auf sowie bei der Hereditären Spastischen Paraplegie (HSP) und der Infantilen Cerebralparese (ICP), betont der Neurologe. Auch bei diesen Leiden möchte Synofzik deshalb baldmöglichst den Nutzen der neuen Methode erkunden. Momentan fehle es aber an Geldgebern, die diese Untersuchungen unterstützen.

    Quellen

    • Synofzik M, et al: Videogame-based coordinative training can improve advanced, multisystemic early-onset ataxia. J Neurol 260:2656-2658 (2013)
    • Schatton C, Synofzik M, Ilg W: Kinder und Jugendliche mit degenerativer Ataxie profitieren von videospielbasiertem Koordinationstraining. neuroreha 13;2:87-92 (2013)
    • Ilg W, et al: Video game-based coordinative training improves ataxia in children with degenerative ataxia. Neurology, 31. Oktober 2012 (online)

    Fachlicher Kontakt bei Rückfragen

    Dr. med. Matthis Synofzik
    Oberarzt und Forschungsgruppenleiter
    Abteilung für Neurodegeneration
    Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung
    Universitätsklinikum Tübingen
    Otfried-Müller-Str. 27
    72076 Tübingen

    Pressekontakt: Silke Jakobi (Leiterin Kommunikation)
    Tel.: +49 (0)7071 298 88 00
    E-Mail: silke.jakobi@medizin.uni-tuebingen.de

    Pressesprecher der DGN
    Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen

    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    Frank A. Miltner
    c/o albertZWEI media GmbH
    Englmannstr. 2, 81673 München
    E-Mail: presse@dgn.org
    Tel: +49 (0)89 46 14 86 22

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als medizinische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 7500 Mitgliedern die Qualität der neurologischen Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist seit 2008 Berlin.

    1. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Martin Grond
    2. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Wolfgang H. Oertel
    3. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Ralf Gold
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter

    Geschäftsstelle
    Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel: +49 (0)30 531 43 79 30, E-Mail: info@dgn.org

    Über die Neurowoche
    Die Neurowoche, der größte interdisziplinäre Kongress der deutschsprachigen klinischen Neuromedizin, findet vom 15. bis 19. September 2014 in München statt. Unter dem Motto "Köpfe – Impulse – Potenziale" tauschen sich bis zu 7000 Experten für Gehirn und Nerven über die medizinischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Neuromedizin aus. Veranstalter ist die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Beteiligt an der Neurowoche sind die Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP), die Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGNN) mit ihren Jahrestagungen sowie die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR) und die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC).

    http://www.neurowoche2014.org


    Weitere Informationen:

    http://www.dgn.org


    Bilder

    Anhang
    attachment icon Pressemitteilung: Games for Health

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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