Das Ausmaß der bleibenden Behinderung von MS-Patienten hängt maßgeblich von der Degeneration der langen Nervenzellfortsätze ab. Entscheidend beteiligt sind winzige Risse in der Zellmembran, durch die schädliches Kalzium einströmen kann.
Alleine in Deutschland leben mehr als 200.000 Patienten mit Multipler Sklerose (MS). Es ist eine der häufigsten entzündlichen Erkrankungen des Zentralen Nervensystems. Bei dieser Autoimmun-Erkrankung hängt das Ausmaß der bleibenden Behinderung entscheidend davon ab, wie viele der langen Nervenzellfortsätze, der sogenannten Axone, zerstört werden. Ein Team um Professor Martin Kerschensteiner, Direktor des Instituts für Klinische Neuroimmunologie der LMU, und TUM-Professor Thomas Misgeld vom Institut für Neuronale Zellbiologie hat nun im Tiermodell der Multiplen Sklerose einen Mechanismus identifiziert, der zum Absterben der Axone führen kann. Verantwortlich ist ein Zustrom von Kalzium durch winzige Risse in der Zellmembran, wie die Wissenschaftler im Fachmagazin Neuron berichten.
Bereits in früheren Studien beobachteten die Wissenschaftler, dass Axone in der Nähe von entzündlichen Läsionen häufig anschwellen und anschließend zugrundegehen können. „Einige Axone erholen sich aber spontan und schwellen wieder ab“, sagt Kerschensteiner. „Der Prozess ist also grundsätzlich reversibel und könnte daher möglicherweise therapeutisch beeinflusst werden, wenn wir die Mechanismen besser verstehen.“ Wie die Wissenschaftler nun in einem Tiermodell für Multiple Sklerose mithilfe eines in-vivo Mikroskopie-Ansatzes zeigen konnten, hängt das Schicksal der Axone mit ihrem Kalziumgehalt zusammen: Axone mit einem erhöhten Kalziumspiegel haben ein hohes Risiko, anzuschwellen und geringe Chancen, sich von dem geschwollenen Zustand wieder zu erholen. „Dabei beginnen die Veränderungen schon relativ früh“, sagt Misgeld: Auch zehn Prozent der noch nicht angeschwollenen Axone zeigen bereits einen erhöhten Kalziumspiegel. Bei den geschwollenen Axonen hat etwa die Hälfte hohe Kalziumgehalte und entsprechend ein sehr hohes Risiko, abzusterben.
Das überschüssige Kalzium stammt aus dem extrazellulären Raum und dringt durch winzige Risse in der Zellmembran in das Axon ein, wie die Wissenschaftler mithilfe eines an ein Makrokmolekül gekoppelten Fluoreszenzfarbstoffs nachwiesen. Der Farbstoff ist normalerweise zu groß, um in ein intaktes Axon einzudringen. Nur wenn die Membran geschädigt ist, wird der Farbstoff aufgenommen und das Axon angefärbt. „Mithilfe der in-vivo Mikroskopie konnten wir weiterhin beobachten, dass die Axone, die den Farbstoff aufnehmen auch einen erhöhten Kalziumgehalt zeigen“, sagt Kerschensteiner. „Dass Risse in der Zellmembran auch im entzündeten Nervensystem zum Absterben vom Nervenfasern beitragen können, ist eine neue Erkenntnis, die in der Zukunft auch therapeutisch relevant sein könnte“, fügt Misgeld hinzu. So ist aus Untersuchungen von Rückenmarksverletzungen bekannt, dass Nervenfasern zumindest durch mechanische Verletzungen entstandene Risse wieder heilen können. Deshalb hoffen die Wissenschaftler, dass ein besseres Verständnis der Entstehung und Reparatur der Risse ein wichtiger Schritt hin zu neuen therapeutischen Angriffszielen sein könnte.
Neuron 2019
Prof. Dr. Martin Kerschensteiner
Institut für Klinische Neuroimmunologie
Tel.: +49 89 2180 71662
E-Mail: Martin.Kerschensteiner@med.uni-muenchen.de
http://www.klinikum.uni-muenchen.de/Institut-fuer-Klinische-Neuroimmunologie/de/...
Calcium Influx through Plasma-Membrane Nanoruptures
Witte et al.
Neuron 2019
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