München, Dezember 2019 – Bisher waren die etwa 6000 Menschen in Deutschland, die an einer schweren Hämophilie A oder B leiden, auf regelmäßige Infusionen mit Gerinnungsfaktoren angewiesen. Neben neuartigen therapeutischen Antikörpern könnte zukünftig auch eine Gentherapie vor lebensgefährlichen Blutungen schützen. Die Deutsche Gesellschaft für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie (DGTI) rechnet damit, dass diese neue Behandlungsoption in einigen Monaten verfügbar sein wird.
Eine Hämophilie A oder B entsteht aufgrund von Störungen einzelner Gene, die die ausreichende Bildung der Gerinnungsfaktoren VIII oder IX verhindern. „Früher starben die Betroffenen häufig schon im Kindesalter an Blutungen“, erläutert Professor Dr. med. Hermann Eichler vom Universitätsklinikum des Saarlandes. „Heute haben Menschen mit schwerer Hämophilie hingegen eine normale Lebenserwartung“, fügt der Direktor des universitären Instituts für Klinische Hämostaseologie und Transfusionsmedizin hinzu.
Die meisten Patienten mit schwerer Hämophilie, die in Deutschland an wenigen spezialisierten Zentren behandelt werden, erhalten zur Vorbeugung von Blutungen regelmäßig Infusionen der fehlenden Gerinnungsfaktoren. Auch im Falle einer Verletzung können zusätzliche Faktorgaben die Blutungen stoppen.
Trotz dieser Fortschritte ist die Lebensqualität noch nicht optimal. „Die Medikamente können nicht immer verhindern, dass es doch zu inneren Blutungen kommt“, erläutert Eichler. Geschieht das über Jahre hinweg, kann das vor allem die großen Gelenke schädigen, wenn dort gehäuft Blutungen auftreten. „Die Patienten leiden dann unter chronischen Schmerzen und zunehmender Gelenkzerstörung, was bei einigen schon im frühen Erwachsenenalter den Einbau von Kunstgelenken erforderlich macht“, so der Experte. Hinzu kämen die regelmäßigen Infusionen, die mehrmals in der Woche notwendig sind und die Lebensqualität der Patienten sehr beeinträchtigen.
Viele dieser Probleme könnten vermieden werden, wenn der Körper selbst in die Lage versetzt würde, den fehlenden Gerinnungsfaktor zu produzieren. Seit mehr als 20 Jahren forschen Wissenschaftler deshalb an einer Gentherapie zur Behandlung von Hämophilie. Ihr Ziel ist es, eine intakte Kopie des defekten Gens in die Leberzellen zu transportieren, damit diese die Gerinnungsfaktoren VIII oder IX herstellen. Der Transport ist inzwischen mithilfe sogenannter „Genfähren“ effektiv möglich, die aus Adeno-assoziierten Viren (AVV) entwickelt werden. Durch gentechnische Veränderungen sind diese Genfähren keine vermehrungsfähigen Viren mehr und deshalb für den Menschen völlig ungefährlich. Diese AVV-basierten Fähren binden sich gezielt an Leberzellen und können ihre „Fracht“, nämlich die intakten menschlichen Gene für Faktor VIII und IX, in den Zellen abladen. Diese gesunden Gene dienen dann als Bauplan für die Bildung der funktionell intakten Gerinnungsfaktoren, die in das Blut ausgeschleust werden und dort die Blutgerinnung normalisieren.
Chinesische Forscher haben bereits 1996 eine Gentherapie an zwei Menschen mit Hämophilie B vorgenommen. „Die Leberzellen produzierten jedoch nur für kurze Zeit Gerinnungsfaktoren, deren Menge nicht ausreichte, um die Betroffenen vor Blutungen zu schützen“, erläutert Eichler. Inzwischen haben mehrere Firmen in den USA und in Europa Gentherapien entwickelt, die über mehrere Jahre und vielleicht sogar lebenslang die Produktion von Gerinnungsfaktoren in einer Menge ermöglichen, die spontane Blutungen in Gelenke oder Organe verhindern könnten.
Für die Hämophilie B liegen mittlerweile mit verschiedenen Gentherapien Erfahrungen zu über 50 Patienten vor, bei denen Faktor VIII-Konzentrationen von bis zu 45 Prozent der Normalwerte von Gesunden erreicht wurden. „Bei einigen Patienten produzierten die Leberzellen den Gerinnungsfaktor noch acht Jahre nach der Gentherapie“, so der Experte. Bei der Hämophilie A laufen ebenfalls bereits klinische Studien, die in den nächsten Jahren zur Zulassung der Gentherapie führen könnten. Ein erster Zulassungsantrag wurde bereits bei der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA (U. S. Food and Drug Administration) eingereicht.
Die Sorge, dass die Gentherapie die Leber schädigen könnte, hat sich laut dem DGTI-Experten bislang nicht bestätigt. Es komme zwar bei einigen Patienten anfangs zu einem zumeist nur vorübergehenden und leichten Anstieg der Leberenzyme, was auf eine geringgradige Zellschädigung hinweist. Bei den meisten Patienten würde sich die Leber jedoch vollständig erholen, sodass die Sicherheitsbedenken weitgehend ausgeräumt werden konnten. Ob und wann die erste Gentherapie zugelassen wird, lässt sich nach Einschätzung von Eichler nicht genau vorhersagen. Wie die meisten Experten ist er jedoch optimistisch, dass dies bereits in einigen Monaten der Fall sein wird. Für die Patienten könnte es einen enormen Gewinn an Lebensqualität bedeuten, wenn sie nicht mehr auf die regelmäßigen Infusionen angewiesen und ihre Gelenke nicht mehr von Blutungen bedroht wären.
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Sabrina Hartmann
Deutsche Gesellschaft für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie (DGTI)
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