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12.05.2020 09:25

Fluoridexposition in Europa: Kein Anlass zur Besorgnis

Eva Mühle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund

    Über Trinkwasser, Lebensmittel und Zahnpflegemittel nehmen wir Fluorid auf. Während es unstrittig ist, dass das Spurenelement in adäquaten Mengen das Kariesrisiko reduziert, wird über die gesundheitlichen Risiken einer erhöhten Fluoridaufnahme aktuell diskutiert. Forschende des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung (IfADo) haben nun mit der Senatskommission zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (SKLM) Studien zur Neurotoxizität von Fluorid analysiert. Ihr Fazit: Auf Basis der untersuchten Studien besteht bei der aktuellen Fluoridexposition in Europa kein Anlass zur Besorgnis.

    Fluorid kommt geografisch bedingt überall in der Erde und im Wasser in verschiedenen Konzentrationen vor. Einige Länder, wie die USA, setzen dem Trinkwasser zur Kariesprävention Fluorid zu. Weltweit werden fluoridhaltige Mundhygieneprodukte verwendet. Die damit einhergehenden gesundheitlichen Vorteile und möglichen Risiken werden von Wissenschaft und Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.

    Forschende des IfADo haben nun mit Expertinnen und Experten der SKLM aus den Bereichen Toxikologie, Lebensmittelchemie und -technologie sowie Behörden die zur Verfügung stehenden Daten zur entwicklungsneurotoxischen Wirkung von Fluorid ausgewertet. Im Fokus stand die Frage, ob eine dauerhaft erhöhte Fluoridaufnahme der geistigen Entwicklung von Kindern schaden kann. Dazu haben sich die Forschenden die bisherigen Ergebnisse aus Tierversuchen, Experimenten mit Zellkulturen und Beobachtungsstudien am Menschen (epidemiologische Studien) angeschaut.

    In Tierversuchen wurde gezeigt, dass Fluorid in hoher Dosierung entwicklungs- und neurotoxische Wirkungen zeigen kann. Es wurden aber meist so hohe Fluoriddosen getestet, dass sie um mehrere Größenordnungen über den Expositionswerten beim Menschen lagen. Häufig erfüllen diese Studien auch die wissenschaftlichen Standards nicht. Für eine Risikoabschätzung können sie daher nicht verwendet werden. Ein ähnliches Bild zeichnete sich bei der Auswertung der 26 analysierten Studien mit Zellkulturen. Die Fluoridkonzentrationen, die in den Studien an verschiedensten Nervenzellarten eine Wirkung auf den Stoffwechsel zeigten, lagen ebenfalls um mehrere Größenordnungen über den Fluoridkonzentrationen im menschlichen Blut.

    Ergebnisse der epidemiologischen Studien widersprechen sich

    Für den Zeitraum von 2012 bis 2019 konnten die Forschenden insgesamt 23 epidemiologische Studien identifizieren, die einen Zusammenhang zwischen der Fluoridaufnahme und der Intelligenz von Kindern untersuchten. 21 der 23 Studien deuten darauf hin, dass eine hohe Fluoridbelastung mit einem niedrigeren Intelligenzquotienten verbunden sein könnte. „Die meisten der einbezogenen Studien sind aber methodisch zu schlecht angelegt, um einen Zusammenhang zu bestätigen. So werden verzerrende Faktoren wie der familiäre Sozialstatus, der Beitrag weiterer Fluoridquellen zur Exposition oder die Aufnahme von Neurotoxinen wie Arsen über das Trinkwasser unzureichend oder gar nicht berücksichtigt“, erklärt IfADo-Toxikologe Prof. Jan Hengstler. Zudem beruhen fast alle Studien auf einer einmaligen Beobachtung der Intelligenz der Kinder in Gegenden, in denen Fluorid natürlicherweise in hohen, bzw. schwankenden Konzentrationen vorkommt.

    Für Daten, die einen Zusammenhang zwischen einer dauerhaften Fluoridaufnahme und der Entwicklung der Intelligenz beweisen, müssen Populationen aber über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. „Wir konnten nur zwei solcher Längsschnittstudien unter den 23 finden. Sie kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen“, fasst Jan Hengstler zusammen. Während die eine Studie keinen Zusammenhang feststellen konnte, schlussfolgerte die andere, dass höhere Fluoridexpositionen von Schwangeren mit leicht niedrigeren IQ-Werten der Söhne zusammenhängen. Für Mädchen konnte das allerdings nicht bestätigt werden, der IQ war teilweise höher.

    Weitere Forschung für umfassende Risikobewertung

    „Das aktuell verfügbare Wissen rechtfertigt nicht, Fluorid als entwicklungsneurotoxisch bei den Werten einzustufen, denen wir in Europa ausgesetzt sind“, so Jan Hengstler. „Es ist noch weitere Forschung nötig, um eine umfassende Risikobewertung durchführen zu können. Wir brauchen etwa mehr qualitativ gute Tierstudien und Längsschnittstudien sowie eine systematischere Analyse des Fluoridgehalts der Quellen, denen wir in der EU ausgesetzt sind“, sagt Jan Hengstler.

    Publikation:
    Die aktuelle Übersichtsarbeit wurde in „Archives of Toxicology“ veröffentlicht. Die Arbeit ist auf Betreiben der „Ständigen Senatskommission zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln (SKLM)“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) entstanden. SKLM-Mitglieder und ständige Gäste sind unter den Autorinnen und Autoren der Publikation. IfADo-Direktor Prof. Jan Hengstler ist Vorsitzender der SKLM. Die Arbeit wurde finanziell durch Mittel der DFG gefördert.

    Hintergrund Fluorid:
    Fluoride sind die neutralen Salze der Fluorwasserstoffsäure. 99 Prozent des Fluorids im Körper befindet sich in den Zähnen und Knochen. Nach bisherigem Kenntnisstand hat Fluorid keine essenzielle Funktion für den Menschen. Der Körper braucht also kein Fluorid, damit er funktioniert. Allerdings ist Fluorid von Bedeutung für die Kariesprävention. Denn Fluorid macht den Zahnschmelz widerstandsfähiger. Viele Zahnpasten enthalten aus diesem Grund geringe Mengen Fluorid. Zudem wird seit den 1940er Jahren in einigen Ländern Fluorid zum Trinkwasser hinzugefügt. Trinkwasser wird in Deutschland nicht fluoridiert. Dafür sind in Deutschland zwei Drittel des konsumierten Haushaltssalzes fluoridiert.
    Akute hohe orale Fluorid-Expositionen können der Gesundheit schaden, indem sie etwa Bauch- und Kopfschmerzen, Durchfall, Koma und sogar Tod hervorrufen. Liegt eine chronische Toxizität vor, kann es zur Skelett- sowie Dentalfluorose kommen.

    Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat die Vorteile für die Kariesprävention und das Risiko für die Entstehung einer Dentalfluorose abgewogen und empfiehlt eine tägliche angemessene Aufnahmemenge von 0,05 mg Fluorid pro Kilogramm Körpergewicht. Diese Aufnahmemenge umfasst alle möglichen Aufnahmequellen (Trinkwasser, Lebensmittel, kosmetische Produkte etc.) und gilt sowohl für Kinder als auch Erwachsene (einschließlich Schwangere). Wie viel Fluorid eine Person in Europa pro Tag aufnimmt, dazu liegen noch keine repräsentativen Daten vor. Schätzungsweise nimmt eine 70 Kilogramm schwere Person in Deutschland pro Tag rund 0,4 mg Fluorid auf.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Jan Hengstler
    Leiter der IfADo-Forschungsabteilung „Toxikologie“
    Telefon: + 49 231 1084-348/9
    E-Mail: hengstler@ifado.de


    Originalpublikation:

    Guth, S. et al.: Toxicity of fluoride: critical evaluation of evidence for human developmental neurotoxicity in epidemiological studies, animal experiments and in vitro analyses. Arch. Toxicol (2020). doi: https://doi.org/10.1007/s00204-020-02725-2


    Weitere Informationen:

    https://link.springer.com/article/10.1007/s00204-020-02725-2 Originalpublikation
    https://www.ifado.de/2020/05/12/fluorid-europa/ IfADo-Website
    https://www.dfg.de/dfg_profil/gremien/senat/bewertung_lebensmittel/index.html DFG-Senatskommission zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln (SKLM)


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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