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16.12.2022 08:46

Was so-tun-als-ob über die soziale Kognition aussagt

Meike Drießen Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum

    Die Fähigkeit, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen, ist wichtig für die soziale Kognition und somit für das menschliche Zusammenleben. Doch wann sind wir in der kindlichen Entwicklung soweit? Dr. Julia Wolf vom Institut für Philosophie II der Ruhr-Universität Bochum analysiert die sogenannten Pretend Plays als Anzeichen für die Fähigkeit, anderen mentale Zustände zuschreiben zu können. Ihre These: Schon Zweijährige können so tun, als tränken sie Tee und somit eine Perspektive einnehmen, die nicht der Realität entspricht. Doch erst später sind Kinder in der Lage, anderen eine Perspektive zuzuschreiben, die sie nicht teilen.

    Julia Wolf hat ihre Arbeit in der Zeitschrift „Synthese“ vom 14. Dezember 2022 veröffentlicht.

    Warum Sarah in die Küche gegangen ist

    Wir nehmen täglich die Perspektive anderer ein, um ihr Verhalten zu verstehen: Angenommen, Sarah ist in die Küche gegangen. Ich erkenne, dass sie das getan hat, weil sie Kaffee holen wollte und glaubt, dass es Kaffee in der Küche gibt. „Wichtig ist, dass dies auch dann gilt, wenn ich selbst keinen Kaffee möchte und sogar auch, wenn ich weiß, dass der Kaffee ausgegangen ist und es daher nicht möglich sein wird, Kaffee in der Küche zu bekommen“, erklärt Julia Wolf. „Mit anderen Worten: Um Andere zu verstehen, ist es wichtig, deren Perspektive einnehmen zu können, auch wenn diese von der eigenen abweicht.“ Die Fähigkeit dazu ist ein zentraler Meilenstein in der Entwicklung der sozialen Kognition. Hinweise legen nahe, dass sich diese Fähigkeit üblicherweise im Alter von etwa vier Jahren entwickelt.

    Schon Zweijährige tun so, als würden sie Tee trinken

    Doch schon früher im Leben können Kinder so tun als ob. Sie tun so, als sei das Sofakissen eine Katze, ein Baustein ein Zug. Wenn sie sich auf diese Scheinwelt einlassen, verkennen Kinder normalerweise nicht die Realität, sondern verstehen durchaus, was real ist und was nicht. Es sieht also so aus, als ob bereits Zweijährige im Rollenspiel einige hochentwickelte kognitive Fähigkeiten zeigen, wie etwa die Fähigkeit, zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden und dadurch unterschiedliche Perspektiven auf eine Situation einnehmen zu können. Pretend Play ist außerdem ein soziales Phänomen: Kinder spielen auch gemeinsam Rollenspiele. Wenn jemand vorgibt, Tee in die leere Tasse eines Kindes zu gießen, kann es dem folgen und so tun, als würde es aus der Tasse trinken. „Dies deutet darauf hin, dass Kinder nicht nur in der Lage sind, alternative Perspektiven einzunehmen, sondern auch die Perspektive einer anderen Person aus deren Verhalten abzuleiten und angemessen darauf zu reagieren“, erklärt Julia Wolf.

    Aber bedeutet das, dass die Kinder schon so früh anderen einen mentalen Zustand zuschreiben können? „Meiner Ansicht nach ist das nicht der Fall“, resümiert Julia Wolf. Während Pretend Play erfordert, dass Kinder in der Lage sind, eine gemeinsame vorgetäuschte Perspektive einzunehmen, erfordert es nicht, dass sie zwischen ihrer eigenen Perspektive und der einer anderen Person unterscheiden. „Wenn ein Kind mit seinem Vater vorgibt, auf einer Teegesellschaft zu sein, muss es nicht zwischen der eigenen Pretend-Perspektive und der des Vaters unterscheiden“, erläutert die Forscherin. „Vielmehr wird die Pretend-Perspektive geteilt. Somit ist die Zuschreibung von mentalen Zuständen nicht notwendig.“

    Auf den Zusammenhang kommt es an

    „Für Theorien zur Entwicklung sozialer Kognition ist das Pretend-Play jedoch nach wie vor von großer Bedeutung“, so Wolf. Es belege nicht nur, dass eine Perspektivübernahme in manchen Kontexten möglich ist, sondern auch, dass Kinder in der Lage sind, eine Perspektive einzunehmen, die der Realität widerspricht – anders als manche Theorien behaupten. Darüber hinaus weise die Tatsache, dass sie sich des Scheins dabei bewusst sind, darauf hin, dass sie auch in der Lage sind, diese unterschiedlichen Perspektiven zu einem gewissen Grad zu koordinieren. „Dies deutet darauf hin, dass ein Großteil der Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme, die für die soziale Kognition und die Zuschreibung mentaler Zustände erforderlich sind, bereits in einem frühen Kindheitsstadium vorhanden ist“, so Julia Wolf. „Was also berücksichtigt werden muss, ist, in welchem Kontext sie sich befinden und wie weit dieser Kontext die Perspektivenübernahme unterstützt oder nicht.“


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Julia Wolf
    Philosophie des Geistes
    Institut für Philosophie II
    Ruhr-Universität Bochum
    Tel.: +49 234 32 24725
    E-Mail: julia.wolf-n8i@rub.de


    Originalpublikation:

    Julia Wolf: Implications of pretend play for Theory of Mind research, in: Synthese, 2022, DOI: 10.1007/s11229-022-03984-5, https://link.springer.com/article/10.1007/s11229-022-03984-5


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Pädagogik / Bildung, Philosophie / Ethik, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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