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21.09.2023 09:42

Nature-Veröffentlichung: Biochemiker klären jahrzehntealtes Missverständnis in der Funktionsweise des Stoffwechsels auf

Thorsten Mohr Pressestelle der Universität des Saarlandes
Universität des Saarlandes

    Die Mitochondrien stellen in den Zellen die Energie zum Überleben bereit, von der einzelligen Hefe bis hin zum Menschen. Gerät die Energieversorgung in Unordnung, drohen schwere Krankheiten. Innerhalb der Mitochondrien spielt ein Protein namens TIM23 eine zentrale Rolle. Es ist für den Transport von Eiweißmolekülen, die im Inneren der Zellen hergestellt werden, durch die Hülle der Mitochondrien verantwortlich – so dachte man zumindest jahrzehntelang. Dabei kommt diese Rolle wohl eher dem „zweieiigen Zwilling“ von TIM23, dem Protein TIM17 zu, wie Forscher um Professor Martin van der Laan herausfinden konnten. Ihre Erkenntnisse haben sie nun in Nature veröffentlicht.

    Wenn sich über Jahrzehnte die klügsten Köpfe eines Fachgebiets einig sind: Unser Forschungsobjekt sieht aus wie ein Dreieck, und dann kommt einer um die Ecke und sagt: Nein, seht her, es sieht aus wie ein Viereck! „Dann sagen alle, der hat einen an der Waffel!“ So pointiert bringt Martin van der Laan eine Erfahrung auf den Punkt, die sein Kollege Eunyong Park von der University of California in Berkeley vor etwa zwei Jahren gemacht hat. „Er hat in einem Manuskript die Struktur des TIM23-TIM17-Komplexes gezeigt, die ganz anders aussah, als wohl alle Experten in diesem Forschungsgebiet angenommen hatten. Kein biochemisches Experiment der vergangenen 25 Jahre schien dazu zu passen“, so der Professor für Medizinische Biochemie, dessen Hauptaugenmerk auf der Erforschung der Mitochondrien, der „Zellkraftwerke“ liegt. Alle waren sich einig: Der Kollege aus Kalifornien muss sich irren.

    Hat er aber nicht. Warum, illustriert Martin van der Laan mit seinen Händen: TIM23 (TIM steht für Translocase of the Inner Membrane), so die bisher gängige Lehrmeinung, bildet wie zwei hohle Hände, die mit den Fingerspitzen aneinander liegen, eine Art Tunnel für den Import großer Eiweißmoleküle, die aus anderen Teilen der Zelle in die Mitochondrien strömen. Dieser Kanal in der Membran der Mitochondrien erkennt wie ein Schlüsselloch, wenn sich ein passendes Molekül mit dem richtigen Schlüssel nähert. Dann zieht es das Molekül in den Kanal hinein und befördert es gemeinsam mit Energie liefernden Hilfsproteinen ins Innere des Mitochondriums. Soweit der Status Quo, der über Jahrzehnte Stand der Wissenschaft war.

    Warum diese Annahme so nicht stimmt, verdeutlicht Martin van der Laan ebenfalls mit seinen Händen, indem er sie dreht und Handrücken an Handrücken zueinander hält, die Finger weisen also nach außen. Das war es, was an der neu vorgeschlagenen Struktur, die auf hoch auflösenden elektronenmikroskopischen Untersuchungen basiert, so heftig überraschte: Der Aufbau des Transportkomplexes sieht ganz anders aus als jahrelang angenommen. Denn nun steht eine der beiden Hände für TIM23, die andere stellt dessen „zweieiigen Zwilling“ TIM17 dar, wie Martin van der Laan sagt. Dieses Protein namens TIM17 spielte in der Wissenschaft bislang eine eher untergeordnete Rolle bei der Beschreibung des Proteinkanals. Man ging davon aus, dass TIM17 eher eine unterstützende oder regulatorische Rolle beim Transport von Proteinen in die Mitochondrien spielte, der „Star des Ensembles“ jedoch TIM23 ist.

    Doch auch diese Annahme ist nun hinfällig. Denn Martin van der Laan und sein Kollege Nils Wiedemann aus Freiburg, mit dem er seit fast zwei Jahrzehnten eng zusammenarbeitet, haben mit ihren Arbeitsgruppen den Komplex aus TIM23 und TIM17 noch einmal ganz genau unter die Lupe genommen und ihn mit technisch anspruchsvollen, aber sehr präzisen biochemischen Methoden bis ins Detail abgeklopft und kartiert. Dabei spielte auch die Neuinterpretation alter Daten, die bisher wenig Sinn zu machen schienen, eine Rolle. Diese Daten passten nicht zum alten Modell, aber nun sehr exakt zu einem neuen, revolutionären Bild des TIM-Komplexes.

    Denn was die Forscher aus Homburg und Freiburg herausfinden konnten, stellt die bisherigen, jahrzehntealten Annahmen, wie Proteine ins Innere der Mitochondrien gelangen, genauso auf den Kopf wie es die Strukturuntersuchungen der Gruppe aus Kalifornien getan haben: „Durch die Zusammenschau neuer struktureller und biochemischer Daten wissen wir jetzt: Die Proteine wandern entlang einer von TIM17 gebildeten, wannenförmigen Membranöffnung in die Mitochondrien, nicht über eine TIM23-Kanalstruktur“, fasst Martin van der Laan die gänzlich neuen Erkenntnisse zusammen. Der Nebendarsteller wird nun also schlagartig zum Star.

    Aus Sicht des Homburger Wissenschaftlers war ein raffinierter experimenteller Trick von besonders entscheidender Bedeutung für den anstehenden Paradigmen-Wechsel. „Wir haben ein künstliches mitochondriales Protein hergestellt, das wie eine Art ‚Korken‘ im Flaschenhals der Transportpore aus TIM17/23 steckenbleibt. Dann haben wir den Komplex so modifiziert, dass freie Radikale, sehr reaktionsfreudige chemische Gruppen, an unserem manipulierten Protein freigesetzt werden. Deren Reaktion mit ihrer molekularen Umgebung können wir mit extrem hoher räumlicher Auflösung beobachten. Und wir haben gesehen, dass die freien Radikale ausschließlich im TIM17-Kanal aktiv waren“, so der Professor. Das konnte nur bedeuten, dass mitochondriale Protein in engem Kontakt mit einer TIM17-Struktur ins Mitochondrium einwandern, und nicht über einen bis in Standard-Lehrbücher der Biochemie und Zellbiologie hinein immer wieder dargestellten TIM23-Kanal.

    So weit, so umwälzend. Doch warum ist diese Erkenntnis wichtig, so dass sich nicht nur eine Handvoll Biochemie-Experten auf der Welt darüber freuen dürfen? Auch das kann Martin van der Laan beantworten: „Fehlerhafte Abläufe in den Mitochondrien können schwere degenerative und metabolische Krankheiten zur Folge haben und sind zum Beispiel an der Entstehung von Morbus Parkinson, Diabetes mellitus und bestimmten Krebsarten beteiligt.“ Wenn man nun beispielsweise besser versteht, wie Proteine ins Innere der „Zellkraftwerke“ gelangen, um die Energieversorgung zu gewährleisten, könnten auf dieser Grundlage irgendwann hochwirksame Medikamente entwickelt werden, die den Menschen, die an solch schwerwiegenden Krankheiten leiden, besser helfen können.

    Der Fachartikel ist bereits die zweite Publikation binnen kurzer Zeit, die Martin van der Laan und seine Arbeitsgruppe in Nature und damit einer der angesehensten Wissenschaftszeitschriften der Welt veröffentlichen konnten (hier der Link zur vorherigen Studie: https://www.uni-saarland.de/aktuell/nature-zellen-mitochondrien-energiegewinnung...)


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Martin van der Laan
    Tel.: 06841 16-26590
    E-Mail: martin.van-der-laan@uks.eu
    http://www.linkedin.com/in/martin-van-der-laan-483a7621


    Originalpublikation:

    Fielden, L.F., Busch, J.D., Merkt, S.G. et al. Central role of Tim17 in mitochondrial presequence protein translocation. Nature 621, 627–634 (2023). https://doi.org/10.1038/s41586-023-06477-8


    Bilder

    Prof. Dr. Martin van der Laan
    Prof. Dr. Martin van der Laan
    Thorsten Mohr
    Universität des Saarlandes/Thorsten Mohr


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Martin van der Laan


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