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26.03.2024 12:57

Beeinflussen Essens- und Getränkevorlieben Migrationsströme?

Silvia Leek Öffentlichkeitsarbeit und Pressestelle
Max-Planck-Institut für demografische Forschung

    Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung haben anhand von Facebook-Daten den Einfluss kultureller Ähnlichkeiten auf Migrationsströme untersucht und herausgefunden, dass kulturelle Nähe bei der Wahl des Ziellandes eine ebenso wichtige Rolle spielt wie gemeinsame Sprache und Geschichte.

    Wenn Menschen auswandern, spielen viele Faktoren eine Rolle bei der Wahl des Ziellandes: Wie gut sprechen sie die Sprache des neuen Landes? Hat man dort bereits eine Familie oder eine Gemeinschaft? Passen die Werte und Normen des Landes zu den eigenen? Wie weit ist der neue Ort von zu Hause entfernt? Carolina Coimbra Vieira vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) und ihre Kolleg*innen haben eine Methode entwickelt, um die kulturelle Ähnlichkeit zwischen Ländern anhand von Facebook-Daten zu messen. In einer kürzlich erschienenen Studie zeigen die Autor*innen, welche Auswirkungen es hat, wenn Gravitationsmodelle1 (siehe Erklärung unten), die zur Vorhersage von Migration verwendet werden, um das Maß der kulturellen Ähnlichkeit erweitert werden. Bisher haben diese Modelle in der Regel die Bedeutung von Variablen wie Bevölkerung, Ort, Sprache, Entfernung und gemeinsame Geschichte analysiert. Anhand von Facebook-Daten haben die Forscher*innen nun gezeigt, dass es auch einen Zusammenhang zwischen Migrationsmustern und Vorlieben für Speisen und Getränke gibt. "Kulturelle Distanz ist schwer zu messen und wurde bisher kaum in Gravitationsmodelle zur Bewertung und Vorhersage von Migration einbezogen. Kultur spielt jedoch eine sehr wichtige Rolle in Migrationsprozessen, und wir wollten die Bedeutung kultureller Ähnlichkeit in der Migrationsforschung untersuchen. Konkret haben wir Messungen der kulturellen Ähnlichkeit auf Basis von Interessen für Essen und Trinken auf Facebook getestet, um internationale Migrationsströme zu analysieren", erklärt die Forscherin.

    Migration anhand von Facebook-Daten vorhersagen

    Facebook-Daten aus 16 Ländern wurden analysiert: Argentinien, Australien, Brasilien, Chile, Großbritannien, Frankreich, Indonesien, Japan, Südkorea, Malaysia, Mexiko, Russland, Singapur, Spanien, Türkei und die Vereinigten Staaten. Anhand der Facebook-Daten lassen sich Entwicklungen von Migrationsströmen ablesen und vorhersagen. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn die Zahl der Facebook-Nutzer*innen in den USA steigt, die sich für bestimmte traditionelle brasilianische Gerichte interessieren? Ein möglicher Grund ist, dass die Zahl der brasilianischen Einwanderer*innen in den USA gestiegen ist. Dadurch könnte auch die Zahl der Amerikaner*innen steigen, die sich für die brasilianische Kultur interessieren. Wenn diese brasilianischen Einwanderer*innen eine große brasilianische Gemeinschaft in den USA bilden, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Zahl der brasilianischen Einwanderer*innen weiter steigen wird. "In diesem Fall dient die Anzahl der Facebook-Nutzer*innen, die sich für brasilianisches Essen und Trinken interessieren, als Indikator für die Größe der brasilianischen Gemeinschaft in den USA. Eines unserer wichtigsten Ergebnisse zeigt, wie wichtig kulturelle Ähnlichkeiten zwischen Ländern für die Vorhersage von Migrationsströmen zwischen ihnen sind", sagt Coimbra Vieira. Ähnlichkeiten im Essen und Trinken spielen bei der Vorhersage von Migration eine ebenso wichtige Rolle wie statische Standardfaktoren. "Variablen wie Sprache, Geschichte und geographische Entfernung sind statisch und symmetrisch, d.h. die Entfernung zwischen den USA und Brasilien ändert sich nicht und ist unabhängig von der Betrachtungsrichtung gleich. Wir haben festgestellt, dass kulturelle Aspekte des Alltagslebens sensibel auf Veränderungen im Umfeld reagieren und als asymmetrische und dynamische Maße für die Ähnlichkeit zwischen Ländern dargestellt werden können. Zum Beispiel ist das Interesse an brasilianischem Essen in den USA nicht so groß wie das Interesse an amerikanischem Essen in Brasilien. Das ist ein großer Mehrwert für die Migrationsmodellierung, sowohl inhaltlich als auch für die Vorhersage", sagt die Forscherin.

    Die Verwendung von Facebook-Werbedaten als Quelle ist eine effektive Methode der passiven Datenerhebung, um zeitnahe, kostengünstige, reproduzierbare und skalierbare Ähnlichkeitsmaße zu entwickeln. Beispielsweise können aus Facebook-Werbedaten abgeleitete kulturelle Ähnlichkeitsmaße schnell Veränderungen erfassen, insbesondere wenn sich Migrationszahlen aufgrund von Krisen oder Konflikten wie der russischen Invasion in der Ukraine rasch ändern. Durch die Nutzung von Informationen aus sozialen Medien können Forscher*innen wertvolle Einblicke in sich entwickelnde kulturelle Dynamiken und Migrationsmuster gewinnen, die es politischen Entscheidungsträger*innen ermöglichen, angesichts komplexer globaler Herausforderungen reaktionsschnellere und fundiertere Entscheidungen über die Aufnahme von Geflüchteten zu treffen.

    Social-Media-Daten zur Analyse komplexer sozialer Fragen

    Aufgrund der begrenzten Datenverfügbarkeit und der geringen Anzahl der einbezogenen Länder weist die Studie einige Einschränkungen auf. Die vorgeschlagene Methode zur Messung kultureller Ähnlichkeiten basiert ausschließlich auf den Interessen der Facebook-Nutzer*innen an Essen und Trinken, wodurch andere relevante Attribute wie das Interesse an Unterhaltung, Prominenten oder Sport möglicherweise nicht berücksichtigt werden. Außerdem können Daten aus sozialen Medien verzerrt sein.

    Coimbra Vieira kommt zu dem Schluss, dass weitere Untersuchungen erforderlich sind, um diese Ergebnisse zu bestätigen. Dennoch stellt die Studie einen wichtigen Fortschritt im Verständnis der treibenden Kräfte der Migration dar und zeigt, wie wichtig es ist, neben den traditionellen Variablen auch kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Sie unterstreicht auch die Möglichkeit, aus Social-Media-Daten wie Facebook abgeleitete Messungen in die Migrationsforschung einzubeziehen. Dieser innovative Ansatz ermöglicht nicht nur ein dynamischeres und differenzierteres Verständnis von Migrationsmustern, sondern eröffnet auch neue Wege für die Nutzung von Big Data zur Lösung komplexer gesellschaftlicher Probleme.

    1Gravitationsmodell der Migration

    Das Gravitationsmodell der Migration basiert auf dem Newtonschen Gravitationsgesetz, das die Anziehungskraft zwischen zwei Körpern als Funktion ihrer Masse und ihres Abstands zueinander beschreibt. Im Gravitationsmodell der Migration werden "Körper" und "Masse" durch "Ort" und "Bevölkerung" ersetzt. Die Theorie geht davon aus, dass dichter besiedelte Gebiete Zuwanderer*innen aus dünner besiedelten Gebieten anziehen und dass die Interaktion/Bewegung zwischen zwei Orten umso größer ist, je näher sie beieinander liegen. Mit zunehmender Entfernung nimmt die Interaktion/Bewegung zwischen den Orten ab.

    Bisher wurden in Gravitationsmodellen eher statische und symmetrische Variablen wie Entfernung, Sprache oder gemeinsame Geschichte berücksichtigt. Symmetrisch bedeutet in diesem Fall, dass sich die Variable nicht ändert, egal aus welcher Richtung sie betrachtet wird. Zum Beispiel ist die Entfernung von Berlin nach Paris die gleiche wie von Paris nach Berlin.

    Die Forscher*innen erweitern dieses traditionelle Modell um eine asymmetrische und dynamische Variable der kulturellen Ähnlichkeit, die auf den Interessen der Facebook-Nutzer an Essen und Trinken basiert. Zum Beispiel kann das Interesse an spanischem Essen in Chile größer sein als das Interesse an chilenischem Essen in Spanien. Dies kann sich jedoch in Zukunft ändern.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Carolina Coimbra Vieira
    coimbravieira@demogr.mpg.de


    Originalpublikation:

    Carolina Coimbra Vieira, Sophie Lohmann, Emilio Zagheni: The Value of Cultural Similarity for Predicting Migration: Evidence from Food and Drink Interests in Digital Trace Data in Population and Development Review (2024). DOI: 10.1111/padr.12607


    Weitere Informationen:

    http://www.demmogr.mpg.de/go/gravitation


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geowissenschaften, Gesellschaft, Kulturwissenschaften
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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