idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
16.05.2024 09:57

Was ist „Zeit“ für Quantenteilchen? - Veröffentlichung von TU-Forschern in „Science Advances“

Michaela Hütig Science Communication Centre - Abteilung Kommunikation
Technische Universität Darmstadt

    Darmstadt, 16. Mai 2024. Bei einem verblüffenden Phänomen der Quantenphysik, dem sogenannten Tunneln, scheinen sich Teilchen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen. Darmstädter Physiker glauben jedoch, dass die Zeit, die die Teilchen zum Tunneln brauchen, bisher falsch gemessen wurde. Sie schlagen eine neue Methode vor, um die Geschwindigkeit von Quantenteilchen zu stoppen.

    In der klassischen Physik gibt es harte Regeln, die sich nicht umgehen lassen. Wenn zum Beispiel ein rollender Ball nicht genug Energie hat, wird er über einen Hügel nicht hinwegkommen, sondern vor dem Gipfel umkehren und zurückrollen. In der Quantenphysik ist dieses Gesetz nicht ganz so streng: Ein Teilchen kann eine Barriere hinter sich lassen, auch wenn seine Energie dafür nicht reicht. Es wirkt, als würde es durch einen Tunnel schlüpfen, weshalb das Phänomen auch „Tunneleffekt“ heißt. Was magisch klingt, hat handfeste technische Anwendungen, etwa in Flash-Speichermedien.

    Für Aufsehen sorgten in der Vergangenheit Experimente, bei denen Teilchen schneller als das Licht tunnelten. Doch Einsteins Relativitätstheorie verbietet Überlichtgeschwindigkeit. Es fragt sich also, ob die für das Tunneln benötigte Zeit in diesen Experimenten richtig „gestoppt“ wurde. Die Physiker Patrik Schach und Enno Giese von der TU Darmstadt haben sich überlegt, wie man „Zeit“ für ein tunnelndes Teilchen überhaupt definiert. Sie schlagen nun eine neue Methode vor, diese Zeit zu messen. In ihrem Experiment messen sie sie auf eine Weise, die aus ihrer Sicht besser zur Quantennatur des Tunnelns passt. Den Entwurf ihres Experimentes haben sie im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science Advances“ veröffentlicht.

    Winzige Teilchen wie Atome oder Lichtteilchen haben laut Quantenphysik eine Doppelnatur. Je nach Experiment verhalten sie sich wie Teilchen oder wie Wellen. Beim Tunneleffekt zeigt sich die Wellennatur von Teilchen. Auf die Barriere rollt ein „Wellenpaket“ zu, einem Schwall Wasser vergleichbar. Die Höhe der Welle gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Teilchen sich an diesem Ort materialisieren würde, wenn man seinen Aufenthaltsort misst. Trifft das Wellenpaket auf eine Energiebarriere, wird ein Teil davon reflektiert. Ein kleiner Teil davon durchdringt die Hürde jedoch. Nun gibt es eine kleine Wahrscheinlichkeit, dass das Teilchen jenseits des Hindernisses auftaucht.

    Bisherige Experimente wollen festgestellt haben, dass ein Lichtteilchen nach dem Tunneln einen weiteren Weg zurückgelegt hat, als eines, das freie Bahn hatte. Es wäre also schneller als das Licht gereist. Doch dazu mussten die Forscher den Ort definieren, an dem das Teilchen nach der Passage ist. Sie wählten den höchsten Punkt seines Wellenpakets.

    „Das Teilchen folgt aber keiner Bahn im klassischen Sinne“, wendet Enno Giese ein. Wo das Teilchen sich zum Zeitpunkt X aufhält, lässt sich nicht eindeutig sagen. Das macht es schwierig, Aussagen über die von A nach B benötigte Zeit zu treffen.

    Schach und Giese hingegen orientieren sich an einem Zitat Albert Einsteins: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest“. Sie schlagen vor, das tunnelnde Teilchen selbst als Uhr zu nutzen. Ein zweites Teilchen, das nicht tunnelt, dient als Referenz. Durch Vergleich der beiden natürlichen Uhren lässt sich feststellen, ob das Tunneln langsamer, schneller oder gleich schnell vergeht.

    Die Wellennatur von Teilchen kommt diesem Ansatz entgegen. Das Schwingen von Wellen ähnelt dem Pendeln einer Uhr. Konkret schlagen Schach und Giese vor, Atome als Uhren zu nutzen. Die Energieniveaus von Atomen schwingen mit bestimmten Frequenzen. Nach Bestrahlen mit einem Laserpuls schwingen diese Niveaus zunächst im Gleichtakt – die Atomuhr wird gestartet. Während des Tunnelns aber verschieben sich die Takte geringfügig. Durch einen zweiten Laserpuls werden die beiden internen Wellen des Atoms zur Interferenz gebracht. So lässt sich messen, wie weit die beiden Wellen der Energieniveaus auseinandergelaufen sind, was wiederum ein präzises Maß für die vergangene Zeit ist.

    Ein zweites Atom, das nicht tunnelt, dient als Referenz, um den Zeitunterschied zwischen Tunneln und Nicht-Tunneln zu messen. Berechnungen der beiden Physiker lassen erwarten, dass das tunnelnde Teilchen eine geringfügig spätere Zeit anzeigen wird. „Die Uhr, die getunnelt ist, ist etwas älter als die andere“, formuliert es Patrik Schach. Das scheint Experimenten zu widersprechen, die dem Tunneln Überlichtgeschwindigkeit zusprachen.

    Im Prinzip sei der Test mit heutiger Technologie durchführbar, sagt Schach, aber eine große Herausforderung für Experimentatoren. Denn der zu messende Zeitunterschied beträgt nur rund 10-26 Sekunden – eine extrem kurze Zeit. Es helfe, statt einzelner Atome ganze Atomwolken als Uhren zu nutzen, erklärt der Physiker. Möglich sei es auch, den Effekt zu verstärken, etwa durch künstlich erhöhte Uhrenfrequenzen. „Derzeit diskutieren wir mit experimentellen Kollegen und sind mit unseren Projektpartnern im Kontakt“, ergänzt Giese. Gut möglich, dass sich ein Team bald entschließt, dieses sehr spannende Experiment durchzuführen.

    Über die TU Darmstadt
    Die TU Darmstadt zählt zu den führenden Technischen Universitäten in Deutschland und steht für exzellente und relevante Wissenschaft. Globale Transformationen – von der Energiewende über Industrie 4.0 bis zur Künstlichen Intelligenz – gestaltet die TU Darmstadt durch herausragende Erkenntnisse und zukunftsweisende Studienangebote entscheidend mit.
    Ihre Spitzenforschung bündelt die TU Darmstadt in drei Feldern: Energy and Environment, Information and Intelligence, Matter and Materials. Ihre problemzentrierte Interdisziplinarität und der produktive Austausch mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erzeugen Fortschritte für eine weltweit nachhaltige Entwicklung.
    Seit ihrer Gründung 1877 zählt die TU Darmstadt zu den am stärksten international geprägten Universitäten in Deutschland; als Europäische Technische Universität baut sie in der Allianz Unite! einen transeuropäischen Campus auf. Mit ihren Partnern der Rhein-Main-Universitäten – der Goethe-Universität Frankfurt und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz – entwickelt sie die Metropolregion Frankfurt-Rhein-Main als global attraktiven Wissenschaftsraum weiter.

    www.tu-darmstadt.de

    MI-Nr. 18/2024, Christian J. Meier/mih


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Patrik Schach M. Sc.
    Arbeitsgebiet Materiewellenoptik

    patrik.schach@tu-darmstadt.de
    +49 6151 16-20165


    Originalpublikation:

    https://doi.org/10.1126/sciadv.adl6078


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
    Physik / Astronomie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).