Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Markus Lappe von der Universität Münster ist der Frage nachgegangen, wie wir trotz ständiger Augenbewegungen eine stabile Umgebung wahrnehmen. Das Ergebnis: Schnelle und langsame Augenbewegungen beruhen auf unterschiedlichen Mechanismen, und die visuelle Stabilität hängt von spezifischen Bewegungssignalen ab. Die Studienergebnisse sind in der Zeitschrift „Science Advances“ erschienen.
Die visuelle Wahrnehmung optischer Reize verlangt dem Gehirn Höchstleistungen ab: In jeder Sekunde nehmen die Augen mehr als zehn Millionen Informationen auf und leiten sie über Tausende von Nervenfasern an das Gehirn weiter. Das führt dazu, dass wir die Welt als stabil wahrnehmen, obwohl wir die Augen ständig bewegen. Expertinnen und Experten vermuten, dass dies durch einen besonderen Kompensationsmechanismus des visuellen Systems ermöglicht wird, der seit langem erforscht, aber immer noch nicht verstanden ist. Ein Forschungsteam um den Psychologen Prof. Dr. Markus Lappe von der Universität Münster hat untersucht, wie aus einem hochdynamischen visuellen Eingangssignal auf der Netzhaut (Retina) diese stabile Weltwahrnehmung entsteht. Bislang nahezu unerforscht ist die Bewegungswahrnehmung von nicht-starren Objekten wie Feuer oder Wasser. Die Forscher fanden heraus, dass entgegen der bisherigen Annahme die langsame oder auch sogenannte glatte Augenbewegung (smooth pursuit) nicht für alle Bewegungsarten ausgeführt werden kann. Zudem wiesen sie erstmals nach, dass der Kompensationsmechanismus für schnelle Augenbewegungen (Sakkaden) außer Kraft gesetzt wird, wenn wir bestimmte Arten von nicht-starren Bewegungen sehen. Dadurch geht die visuelle Stabilität verloren. Die Studienergebnisse sind in der Zeitschrift „Science Advances“ erschienen.
Bisher gab es die Annahme, dass schnelle und glatte Augenbewegungen auf identische Bewegungssignale reagieren. „Unsere Ergebnisse zeigen eine klare Trennung der beiden Systeme. Sie sind funktionell voneinander getrennt und liegen verschiedenen neuronalen Nervenbahnen zugrunde“, erklärt Markus Lappe. In der Studie stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine neu entdeckte visuelle Bewegungsillusion vor, die zu einer Störung der räumlichen Wahrnehmung führt. Um das neue Stimuluskonzept zu testen, mussten 15 Testpersonen einen simulierten rotierenden Wirbel mit den Augen verfolgen, der sich über ein Feld von Punkten bewegte. „Normalerweise ist das eine leichte Aufgabe, und die Augen bleiben genau auf dem Objekt. Sie bewegen sich also kontinuierlich mit der Geschwindigkeit des Objekts. Der Wirbel konnte jedoch nicht verfolgt werden, sodass die Augen für eine gewisse Zeit statisch blieben“, erklärt Doktorand Krischan Alexander Koerfer. Etwa alle 400 Millisekunden sei eine schnelle Augenbewegung erfolgt, die den Wirbel wieder ins Zentrum der Netzhaut brachte. Jedes Mal, wenn die Versuchspersonen eine solche Augenbewegung ausführten, schien der Wirbel einen Sprung nach vorne zu machen. „Der übliche Kompensationsmechanismus für schnelle Augenbewegungen versagte bei der Bewegung des Wirbels. Obwohl die daraus resultierende Bewegung deutlich wahrgenommen wurde, konnte das Auge ihr nicht folgen. Das ist eine bisher unbekannte Kombination.“
Methodisches Vorgehen: Das Forschungsteam hat die Beziehung zwischen den physischen Stimuli und der entsprechenden Wahrnehmung, etwa bezüglich wahrgenommener Sprünge, untersucht und währenddessen synchron präzise die Augenposition und Augenbewegungen vermessen. Da die Testpersonen die Augen geöffnet hatten, ließen sich die Augenbewegungen mit Hochgeschwindigkeitsinfrarotkameras messen, sogenannten Eyetrackern. Dabei werden die Augen mit Infrarotlicht beleuchtet und die Reflexionen auf der Hornhaut und der Pupille gefilmt und analysiert. Die Reflexionen erlauben, die genaue Position und Bewegung der Augen zu bestimmen.
Diese neuen Erkenntnisse sind vor allem für die Wahrnehmungs- und Hirnforschung von Bedeutung. „Dadurch, dass erstmals eine Bewegung präsentiert wird, bei der der Kompensationsmechanismus versagt, können alte Modelle überprüft und neue aufgestellt werden“, sagt Markus Lappe. Langfristig kann das neue Stimuluskonzept auch zur Diagnose und Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen zum Einsatz kommen.
Förderung
Die Studie erhielt finanzielle Unterstützung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Europäischen Union („Horizont 2020“-Programm/Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahme).
Prof. Dr. Markus Lappe
Universität Münster
Institut für Psychologie
E-Mail: mlappe@uni-muenster.de
Telefon: +49 251 83 34172
Krischan Koerfer, Tamara Watson and Markus Lappe (2024): Inability to pursue nonrigid motion produces instability of spatial perception. Science Advances; https://doi.org/10.1126/sciadv.adp6204
https://www.uni-muenster.de/PsyIFP/AELappe/aktuelles/ AG Lappe (Allgemeine Psychologie I)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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