Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Zusammenarbeit mit der MSB Medical School Berlin und dem Max Planck Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research zeigt, dass die Umstellung auf eine Widerspruchslösung („vermutete Zustimmung”), bei der alle Erwachsenen als Organspender*innen gelten, es sei denn, sie widersprechen ausdrücklich, nicht zu einer Zunahme der Spenden von verstorbenen Spender*innen führt. Die Ergebnisse der Studie wurden in der Zeitschrift Public Health veröffentlicht.
Da die Nachfrage nach Spenderorganen das Angebot bei Weitem übersteigt, werden Forderungen nach Änderungen in der öffentlichen Politik immer lauter. Eine Opt-out-Standardregelung („vermutete Zustimmung“), oder auch Widerspruchslösung genannt, wird oft als vielversprechender Ansatz angesehen. Diese Regelung sieht vor, dass alle Erwachsenen nach ihrem Tod automatisch als potenzielle Organspender*innen gelten, es sei denn, sie widerrufen ihre Zustimmung zu Lebzeiten ausdrücklich. Im Gegensatz dazu verlangt das Opt-in-System („ausdrückliche Zustimmung“) von potenziellen Spender*innen, dass sie aktiv zustimmen, ihre Organe nach ihrem Tod zu spenden. Die Diskussion über die Einführung einer Widerspruchslösung hat in Deutschland in letzter Zeit wieder an Fahrt aufgenommen und wirft die Frage auf, ob eine solche Änderung der Regelung tatsächlich zu einer Erhöhung der Zahl der verstorbenen Organspender*innen führen würde.
Eine kürzlich durchgeführte Analyse aller Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ergab keine signifikanten Unterschiede bei den Spendenraten Verstorbener zwischen Ländern mit Zustimmungs- und Widerspruchslösung, jedoch deutlich weniger Lebendspender*innen – Menschen, die freiwillig zu Lebzeiten Organe wie beispielsweise eine Niere spenden – in Ländern mit Widerspruchslösung. Bei solchen Querschnittsanalysen können jedoch nicht alle länderspezifischen Faktoren wie Gesundheitsinfrastruktur, Kultur und religiöse Fragen berücksichtigt werden, die alle die Spendenraten beeinflussen können.
Um die Einschränkungen früherer Forschungsarbeiten zu beheben, wurde in der aktuellen Studie ein Längsschnittansatz verwendet, bei dem Veränderungen der Spendenraten verstorbener Spender*innen im Laufe der Zeit in fünf Ländern – Argentinien, Chile, Schweden, Uruguay und Wales – analysiert wurden, die im betrachteten Zeitraum von einer Opt-in- zu einer Opt-out-Standardregelung gewechselt waren. Diese Methode ermöglichte eine zuverlässigere Bewertung der Auswirkungen von Opt-out-Regelungen, indem langfristige Trends und länderspezifische Faktoren berücksichtigt wurden.
Die Daten wurden aus internationalen Datenbanken erhoben, darunter das International Registry in Organ Donation and Transplantation (IRODaT) und das Global Observatory on Donation and Transplantation (GODT). Von den 39 Ländern, die bis Dezember 2019 von der ausdrücklichen zur vermuteten Zustimmung gewechselt waren, konnten nur fünf in die Analyse einbezogen werden, da es an historischen Daten für Änderungen fehlte, die vor dem Start der IRODaT-Datenbank im Jahr 1996 vorgenommen wurden, und weil die Praxis der vermuteten Zustimmung oft vor der formellen Gesetzgebung informell existierte.
In Übereinstimmung mit früheren Querschnittsanalysen ergab die Studie, dass die Umstellung der Standardeinstellung von Opt-in auf Opt-out in den fünf untersuchten Ländern nicht zu einem Anstieg der Organspendenraten führte. Darüber hinaus zeigten die Ergebnisse, dass die Opt-out-Standardeinstellung nicht einmal zu einem leichten Anstieg der Organspenden führte: Der langfristige Trend blieb gleich und zeigte keine Veränderung der Rate nach der Umstellung. Wie erwartet zeigten die Ergebnisse mit Beginn der COVID-19-Pandemie einen Rückgang der Organspenden von Verstorbenen, wobei bis 2022 nur eine langsame Erholung zu beobachten war.
„Der bloße Wechsel zu einem Opt-out-System führt nicht automatisch zu mehr Organspenden“, erklärt die Autorin Mattea Dallacker, die das Projekt am Forschungsbereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung leitete. „Ohne begleitende Maßnahmen, wie Investitionen in das Gesundheitssystem und öffentliche Aufklärungskampagnen, ist es unwahrscheinlich, dass ein Wechsel zu einem Opt-out-System die Zahl der Organspenden erhöht. Es gibt keine einfache Lösung für die komplexe Herausforderung, die Organspendenraten zu erhöhen”, fährt sie fort.
Die Studie unterstreicht auch die entscheidende Rolle der Angehörigen bei Entscheidungen über Organspenden. Selbst in Systemen mit vermuteter Zustimmung, in denen Personen als Spender*innen gelten, sofern sie sich nicht dagegen aussprechen, werden Familien oft konsultiert und können die mutmaßliche Zustimmung außer Kraft setzen. Da viele Menschen mit ihren Angehörigen nicht über ihre Spendenwünsche sprechen, kann die Widerspruchslösung zu Unsicherheit und Zögern in den Familien führen und somit möglicherweise auch zu Ablehnung.
„Eine mögliche Alternative zur Widerspruchsregelung ist ein System der verpflichtenden Entscheidung“, sagt Ralph Hertwig, Direktor am Forschungsbereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Dies würde es den Bürger*innen ermöglichen, ihre Zustimmung oder Ablehnung zur Organspende ausdrücklich zu registrieren, beispielsweise bei der Beantragung eines Führerscheins oder Personalausweises. Dieses aktive Wahlsystem könnte die Menschen dazu veranlassen, eine fundierte Entscheidung zu treffen, wodurch die wahrgenommene Unklarheit über ihre Präferenz beseitigt würde, die anscheinend zu höheren Ablehnungsraten in der Familie führt. Gute und zugängliche Informationen über Organspenden sind für eine fundierte Entscheidung unerlässlich”, so Hertwig weiter.
In Kürze:
- Die Langzeitstudie untersucht die Organspenderaten von Verstorbenen in fünf Ländern mit einer Widerspruchsregelung (Argentinien, Chile, Schweden, Uruguay und Wales).
- Der Wechsel von einer Zustimmungs- zu einer Widerspruchsregelung hat die Organspenderaten in den fünf untersuchten Ländern nicht erhöht.
- Um die Unsicherheit zu verringern und die Spenderaten zu erhöhen, müssen die Länder in Transplantationskoordinierungsdienste und -infrastruktur investieren, Einzelpersonen dazu ermutigen, mit ihren Angehörigen über ihre Spendenwünsche zu sprechen, und medizinische Teams darin schulen, schwierige Gespräche mit Familien zu führen.
Dallacker, M., Appelius, L., Brandmaier, A. M., Morais, A. S., & Hertwig, R. (2024). Opt-out defaults do not increase organ donation rates. Public Health, 236, 436–440. https://doi.org/10.1016/j.puhe.2024.08.009
https://www.mpib-berlin.mpg.de/pressemeldungen/organspende
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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