Neue experimentelle Studien zahlreicher Forschungsgruppen, darunter des Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie (MPI-EB) in Plön und der Christian-Albrecht-Universität Kiel (CAU), deuten darauf hin, dass die Evolutionsmedizin die Zukunft der Gastroenterologie prägen könnte. Sie eröffnet neue Wege für die Behandlung von Entzündungserkrankungen wie chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED).
Die Evolutionsmedizin untersucht, wie evolutionäre Prozesse Gesundheit und Krankheit beeinflussen können. Erkenntnisse aus dieser Forschung könnten genutzt werden, um innovative Ansätze zur Therapie chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen (CED) zu entwickeln. Neueste Studien von Mitgliedern des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie (MPI-EB) in Plön und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) zeigen, dass eine evolutionäre Perspektive erhebliches Potenzial hat, um die Behandlungsoptionen für Erkrankungen wie CED zu erweitern.
In einer 2023 im Fachmagazin Gut Microbes veröffentlichten Studie zeigte das Forschungsteam, dass sich Darmbakterien wie Escherichia coli in entzündlichen Umgebungen rasch genetisch anpassen und dadurch beweglicher und aggressiver werden. Diese Anpassungen fördern das Überleben und die Verbreitung der Bakterien im Darm und könnten bei Patient*innen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eine zentrale Rolle spielen. In einer aktuellen Übersichtsarbeit, in der die Studie mit weiteren Arbeiten internationaler Forschungsgruppen verglichen wird, verdeutlichen die Forschenden nun das Potenzial der Evolutionsmedizin für die Behandlung chronischer Darmentzündungen. Die Übersichtsarbeit wurde kürzlich in der Zeitschrift Gastroenterologie veröffentlicht.
Schnelle Anpassung der Darmbakterien
Die aktuellen Ergebnisse zeigen, wie rasch sich Darmbakterien an entzündliche Umgebungen anpassen können. Sie verändern sowohl ihr genetisches Erbgut als auch ihre äußeren Eigenschaften—Veränderungen, die sowohl in Laborexperimenten als auch bei Patient*innen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) beobachtet wurden. Eine zentrale Erkenntnis ist, dass bestimmte Bakterien, wie Escherichia coli, genetische Anpassungen durchlaufen, wenn sie entzündlichen Bedingungen ausgesetzt sind, wodurch sie beweglicher und aggressiver werden. Diese Veränderungen helfen den Bakterien, sich im Darm besser auszubreiten und zu überleben—Eigenschaften, die auch bei Patient*innen mit chronischen Darmentzündungen festgestellt wurden.
Ebenso zeigt sich, dass Bakterien in entzündlichen Umgebungen stressresistente Eigenschaften entwickeln, die durch genetische Anpassungen gefördert werden. Dies deutet darauf hin, dass Entzündungen Bakterien begünstigen, die widerstandsfähiger gegenüber harschen Bedingungen sind. „Interessanterweise zeigten Experimente mit Mäusen, dass bestimmte Nährstoffe wie Vitamin B6 schädliche Anpassungen der Bakterien verhindern können“, sagt Prof. Dr. John Baines, Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters PMI, Leiter der Arbeitsgruppe „Evolutionsmedizin“ am MPI-EB und Professor für Evolutionäre Medizin an der Medizinischen Fakultät der CAU. Bei Mäusen mit entzündungsfördernden Darmbakterien führte die Gabe von Vitamin B6 zur Entstehung weniger aggressiver, stressresistenter Bakterienstämme. Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass gezielte Ernährung eine Möglichkeit bieten könnte, unerwünschte Bakterien zu kontrollieren.
Ein weiterer vielversprechender Ansatz besteht darin, Schwachstellen auszunutzen, die durch die genetischen Anpassungen der Bakterien entstehen. Forschende haben herausgefunden, dass sich angepasste Bakterien zwar besser in einem entzündeten Darm behaupten können, jedoch auch anfälliger für bestimmte Antibiotika werden—ein Phänomen, das als „kollaterale Empfindlichkeit“ bekannt ist. Dies eröffnet neue Perspektiven für gezielte Behandlungen, die CED-Symptome lindern könnten.
Revolutionäre Behandlungen: Evolutionär informierte Strategien
Aus den Erkenntnissen der untersuchten Studien leiteten die Forschenden aus Plön und Kiel neuartige Behandlungsansätze ab, die auf einem besseren Verständnis der bakteriellen Anpassungsmechanismen basieren. Mithilfe gezielter Strategien könnten schädliche Veränderungen verhindert oder sogar rückgängig gemacht werden. Neben dem bereits erwähnten Ansatz—der Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln wie Vitamin B6 zur Hemmung ungünstiger Bakterienanpassungen—werden weitere innovative Konzepte erprobt.
Ein vielversprechender Ansatz ist die sogenannte Ancestral-State Restorative Therapy (ASRT). Diese Methode zielt darauf ab, ursprüngliche, nicht adaptierte Bakterienstämme in den Darm einzubringen, um schädliche, angepasste Varianten zu verdrängen. Für Patient*innen in Remissionsphasen—also in Phasen, in denen die Symptome zurückgegangen sind—könnte die ASRT eine natürliche und sichere Behandlungsmöglichkeit darstellen.
Darüber hinaus motivieren die neuen Erkenntnisse über bakterielle Anpassungen eine Neubewertung bestehender Antibiotika. Therapien, die gezielt auf Bakterien abzielen, die sich an entzündliche Bedingungen angepasst haben, könnten konventionelle Behandlungsansätze ergänzen und die Schwere von CED-Schüben deutlich reduzieren.
Ein Aufruf zu weiterer Forschung
„Trotz vielversprechender Fortschritte gibt es noch erhebliche Wissenslücken, besonders beim Verständnis der bakteriellen Entwicklung im Darm. Bisherige Studien haben sich meist auf Stuhlproben konzentriert, sodass unklar bleibt, wie sich Bakterien in verschiedenen Bereichen des Darms verhalten und anpassen. Doch genau diese Unterschiede sind wichtig, vor allem bei unterschiedlichen CED-Subtypen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa„, sagt Prof. John Baines. „Künftige Forschungen sollten daher gezielt untersuchen, wie sich Bakterien in verschiedenen Darmregionen entwickeln und welche Rolle diese Anpassungen bei den verschiedenen Krankheitsformen spielen,“ so Baines weiter. Auch der Einfluss anderer Mikroben wie Pilze und Viren ist noch nicht vollständig erforscht und bietet vielversprechende neue Ansätze für die Wissenschaft.
Auf dem Weg zu einer gesünderen Zukunft
Prof. Baines betont: „Wir sehen diese Entwicklungen als den Beginn einer Ära, in der die bakterielle Evolution im Darm berücksichtigt wird, was neuartige, evolutionär informierte Therapien ermöglichen wird.“ Durch die Anwendung evolutionärer Konzepte hoffen Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen, Ansätze zu entwickeln, die nicht nur die Symptome chronischer Darmentzündungen lindern, sondern auch deren Ursachen gezielt bekämpfen. Aktuelle klinische Studien von Mitgliedern des Exzellenzclusters PMI, wie etwa zur Verabreichung von Vitamin B3 bei chronischen Entzündungserkrankungen, zeigen, dass diese innovativen Konzepte den Sprung vom Labor in die klinische Erprobung geschafft haben.
„Die Erkenntnisse der evolutionären Medizin zur Anpassung und genetischen Entwicklung von Bakterien im menschlichen Darm könnten einen wichtigen Wandel in der Behandlung chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen markieren. Mit weiterer Forschung könnte dieser Ansatz die Grundlage für eine echte Präzisionsmedizin, also personalisierte, effektivere und nachhaltigere Therapien für CED-Patient*innen weltweit schaffen,“ so Prof. Stefan Schreiber, Sprecher des Exzellenzclusters PMI, Direktor der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, und Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB), CAU und UKSH. Die evolutionäre Medizin in Bezug auf chronische Entzündungserkrankungen ist daher auch ein wichtiger Bestandteil der Forschungsagenda des Exzellenzclusters PMI und wird dies auch in einer möglichen weiteren Förderphase sein, für die sich PMI aktuell in der Begutachtung befindet.
Prof. Dr. John Baines
Forschungsgruppenbleiter
Gastgruppe Evolutionsmedizin
Evolutionary Medicine for Chronic Inflammatory Diseases of the Gut: More Than a Clinical Fantasy? (2024)
Andreani NA, Unterweger D, Schreiber S, Baines JF
Gastroenterology
10.1053/j.gastro.2024.10.016
Wird die Evolution der Darmbakterien Wege zur Heilung des Darmmikrobioms eröffnen?
Daniela Leitner
Daniela Leitner
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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