Neue Analyse
Investitionen statt Druck: WSI skizziert nachhaltige Strategien zur Fachkräftesicherung
In der Debatte über die Fachkräftesituation behaupten manche, es brauche nur mehr „Druck“, um das Arbeitskräfteangebot zu erhöhen. Genannt werden etwa Kürzungen beim Bürgergeld oder eine Erhöhung des Rentenalters. Doch solch vereinfachte Positionen gehen an der Realität des deutschen Arbeitsmarktes vorbei, ergibt eine neue Kurzanalyse des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, die den aktuellen Forschungsstand erschließt.*
Danach gibt es bislang große ungenutzte Potenziale von Menschen, die als Fachkräfte arbeiten könnten. Wenn diese Potenziale gehoben würden, könnte damit die Fachkräftelücke reduziert werden – als ein wichtiger Faktor, ergänzt durch Zuwanderung. Aber es braucht Investitionen, um das ungenutzte Potenzial nachhaltig zu erschließen, unter anderem in Weiterbildung, in betriebliches Gesundheitsmanagement, insbesondere für ältere Beschäftigte, und in Kinderbetreuung und Schulen, so die Untersuchung von WSI-Direktorin Prof. Dr. Bettina Kohlrausch und WSI-Qualifizierungsexpertin Magdalena Polloczek.
Die Ampelkoalition habe mit dem Qualifizierungsgeld ein sinnvolles Instrument geschaffen, dessen Wirksamkeit sich im betrieblichen Alltag aber erst noch erweisen müsse. Die ebenfalls sinnvolle Bildungsteilzeit wurde bis zum Bruch der Koalition nicht umgesetzt. Trotz solcher Umsetzungslücken wiesen derartige Ansätze in die richtige Richtung, betonen die Forscherinnen: „Eine Fachkräftedebatte, die die Potenziale von Menschen in den Blick nimmt, führt zu mehr Chancengleichheit und tut damit nicht nur den direkt betroffenen Menschen gut. Dies entfaltet auch einen ungemeinen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft und damit auch für die Wirtschaft.“ Falsch und riskant sei es dagegen, schwache gesellschaftliche Gruppen gegen noch schwächere auszuspielen, etwa Geringverdiener*innen gegen Bürgergeldbezieher*innen. Das berge die Gefahr, „soziale Ungleichheiten zu verschärfen und damit den sozialen Zusammenhalt zu gefährden, während diese Ansätze vergleichsweise wenig Potenzial bergen, die Anzahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Fachkräfte tatsächlich kurzfristig zu erhöhen.“, warnen Kohlrausch und Polloczek.
Leistungen für vermeintlich unwillige Bürgergeldempfänger*innen runter, Rentenalter rauf, und schon schrumpft die Fachkräftelücke? Ein genauerer Blick auf die Zahlen entlarvt solche Forderungen als Polemik, so die WSI-Analyse. Beispiel Bürgergeld: Rund ein Drittel der Personen in der Grundsicherung ist gar nicht erwerbsfähig, die meisten davon sind Kinder. Viele erwerbsfähige, nicht-arbeitslose Personen arbeiten in niedrig bezahlten Jobs und erhalten daher „aufstockende“ Leistungen, sind in Ausbildung oder übernehmen Sorgetätigkeiten. Von den 1,7 Millionen erwerbsfähigen, arbeitslosen leistungsberechtigten Menschen im Bürgergeldbezug haben die meisten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Und verschwindend gering ist die Zahl der Menschen in dieser Gruppe, die sich weigern, eine angebotene Erwerbstätigkeit aufzunehmen: Die Bundesagentur für Arbeit (BA) weist dafür zwar keine genaue Quote aus. Doch kann man sich daran orientieren, dass laut BA 2023 lediglich 2,6 Prozent der erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehenden ein oder mehrmals eine Leistung gekürzt wurde. Dabei handelte es sich ganz überwiegend um Sanktionen wegen Meldeversäumnissen, der Anteil der Sanktionen wegen verweigerter Arbeitsaufnahme war noch viel geringer.
Beispiel Rente: Vielen Beschäftigte mit körperlich oder psychisch belastenden Tätigkeiten erscheint es aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen schlicht nicht möglich, überhaupt bis zur heute regulären Verrentung erwerbsfähig zu bleiben – geschweige denn darüber hinaus. Gut ein Viertel aller repräsentativ befragten Beschäftigten äußerten in einer WSI-Studie von 2023 entsprechende Zweifel, unter den mit stark belastenden Arbeitsbedingungen sogar knapp 60 Prozent. „Für sie würde eine Erhöhung des Rentenalterns faktisch eine Rentenkürzung bedeuten“, schreiben die Forscherinnen.
Weitaus erfolgversprechender sei es, sich nachhaltig ungenutzten Potenzialen am Arbeitsmarkt zuzuwenden, die mit einer zielgerichteten Arbeitsmarkt-, Qualifizierungs- und Familienpolitik gehoben werden könnten. Kohlrausch und Polloczek identifizieren vier Gruppen. Jeder davon gehören mehrere hunderttausend Menschen an, das Gesamtpotenzial ist also groß. Da es zwischen den Gruppen Überschneidungen gibt (z.B. Frauen, die keinen berufsqualifizierenden Abschluss haben), die Statistik zu diesen Überschneidungen aber allenfalls grobe Schätzungen erlaubt, können die Zahlen der einzelnen Gruppe allerdings nicht addiert werden.
-Personen ohne berufsqualifizierenden Abschluss-
Die Zahl derjenigen Menschen, die keinen formal qualifizierenden Berufsabschluss besitzen, ist während der Corona-Pandemie stark gestiegen: Sie lag im Jahr 2022 bei 2,86 Millionen jungen Erwachsenen zwischen 20 und 34 Jahren und ist innerhalb von nur zwei Jahren um mehr als eine halbe Million Menschen angestiegen. Es bestehe ein deutlicher Zusammenhang: Wer keinen allgemeinbildenden (Schul-)Abschluss hat, trägt auch ein höheres Risiko, beruflich ohne Abschluss zu bleiben. Verstärkte bildungspolitische Bemühungen, die darauf abzielen, Abschlussquoten im schulischen System zu erhöhen, könnten daher ein erster wichtiger Hebel sein.
34 Prozent der Personen ohne beruflichen Abschluss, das sind 968.000 junge Menschen unter 34 Jahren, sind weder in Ausbildung noch in Beschäftigung. 66 Prozent der Betroffenen sind trotz mangelnder Berufsqualifikation erwerbstätig, sie finden häufig in Verkehrs- und Logistikberufen sowie in der Tourismus- und Gastronomiebranche einen Arbeitsmarktzugang. Das Problem: Ausbildungslose Personen haben ein höheres Risiko, auch aus Beschäftigung heraus arbeitslos zu werden. Auch ihre Erwerbskarrieren sind somit mit hohen Risiken behaftet.
Als wichtige Voraussetzung, um Menschen ohne Abschluss langfristig in den Arbeitsmarkt zu integrieren nennen Kohlrausch und Polloczek die Instrumente der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik auszuweiten, um etwa einen Ausbildungswunsch zu realisieren, Berufsabschlüsse nachzuholen und Weiterbildungen durchzuführen.
-Mehr Erwerbstätigkeit von Frauen-
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen, zudem sind jüngere Frauen im Durchschnitt höher qualifiziert als männliche Altersgenossen. Allerdings ist der Anstieg im Wesentlichen auf mehr Teilzeiterwerbstätigkeit zurückzuführen. Aktuelle Szenarien für das Bundesarbeitsministerium (BMAS) kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Zahl der Erwerbstätigen bis zum Jahr 2027 um eine Million erhöhen würde, wenn die Erwerbsbeteiligung von Frauen um zehn Prozent stiege. Dabei sind die Fachkräfte gegengerechnet, die benötigt würden, um die von den Frauen zum gegenwärtigen Zeitpunkt unentgeltlich erbrachte Sorgearbeit im Bereich der Kinderbetreuung und Pflege im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu gewährleisten.
Eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen setze jedoch noch mehr voraus als einen weiteren Ausbau des bisherigen Angebots an Kinderbetreuung und Pflege. In Kitas müssten nicht nur mehr Plätze entstehen, es sei auch zusätzliches Personal erforderlich, um das Angebot zu stabilisieren. Denn laut der WSI-Erwerbspersonenbefragung waren im Frühjahr 2023 rund 57 Prozent der erwerbstätigen Eltern von Betreuungsausfällen betroffen. Ein Drittel reagierte darauf, indem sie ihre eigene Erwerbsarbeitszeit reduzierten. Das taten vor allem die Mütter.
Darüber hinaus müssten aber auch die Männer einen größeren Teil der Sorgearbeit übernehmen als bisher. Rechnet man bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammen, arbeiten erwerbstätige Frauen gegenwärtig durchschnittlich jede Woche eine Stunde mehr als erwerbstätige Männer. Auch wenn der Gender Care Gap in Haushalten mit Kindern unter sechs Jahren mit in dieser Gruppe 15 Stunden besonders groß ist, besteht die von Frauen zusätzlich geleistete Sorgearbeit keineswegs nur aus Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen. Arbeiten im Haushalt machen einen weiteren erheblichen Teil aus. Der Staat solle Anreize für eine ungleiche Verteilung der Sorgearbeit abbauen, etwa indem er das Ehegattensplitting abschaffe oder die Ausgestaltung des Elterngeldes reformiere.
-Personen mit Migrationsgeschichte-
Personen mit Migrationserfahrung sind eine weitere Personengruppe, die oftmals in den Blick genommen werden, wenn Lösungen für Fachkräfteengpässe gesucht werden. Betrachtet man allein die Erwerbsquote von Personen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit – ohne zusätzliche Zuwanderung aus dem Ausland miteinzukalkulieren oder Verbesserungen in der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen einzurechnen – gibt es schon erheblichen Spielraum. Stiegen die Erwerbsquoten von Personen mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft auf das Niveau von Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an, würde das laut BMAS als Prognose für das Jahr 2027 rund 850.000 Beschäftigte mehr auf dem Arbeitsmarkt bedeuten.
Auch hier sei die Kinderbetreuung ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt zur Hebung des Potenzials, heben die Forscherinnen hervor. Familien mit Migrationserfahrungen sind in Kitas deutlich unterrepräsentiert, was die Erwerbschancen der Eltern mindert, obwohl auch in dieser Gruppe eine große Nachfrage nach Betreuungsplätzen besteht. Ein Ausbau der institutionalisierten Kinderbetreuung berge außerdem die große Chance, Bildungspotenziale für zukünftige Fachkräfte auszuschöpfen.
-Ältere Beschäftigte-
Schließlich kommen die BMAS-Szenarien zu dem Ergebnis, dass eine Erhöhung der Erwerbsquoten der 55- bis 60-Jährigen und die der 60- bis 65-Jährigen auf die Erwerbsquoten der jeweils vorangehenden Altersgruppen die Zahl der Erwerbstätigen um 667.000 Personen erhöhen könnte. Eine Anhebung der Erwerbsquoten der Gruppe stellt jedoch höhere Anforderungen an das betriebliche Personal- und Gesundheitsmanagement. So zeigen aktuelle WSI-Untersuchungen, dass die vorhandenen Potenziale der Betriebe, den Beschäftigten das Arbeiten bis zum Rentenalter zu ermöglichen, aus Sicht der Betriebs- und Personalräte momentan nicht ausgeschöpft werden. Mehr als ein Sechstel der repräsentativ befragten Personal- und Betriebsräte gibt sogar an, dass sich der Betrieb „gar nicht“ darum bemühe, die Arbeitsbedingungen älterer Beschäftigter entsprechend ihrer Bedürfnisse zu gestalten.
-Aufbau einer inklusiven Bildungsstruktur nötig-
Eine besondere Herausforderung bestehe darin, dass aktuell in einigen Branchen Fachkräftemangel bestehe, während in anderen Fachkräfte ihre Arbeit verlieren, schreiben die Forscherinnen. Es sei daher „höchste Zeit, eine ernsthafte politische Debatte über die Fachkräftesituation zu führen und politische Maßnahmen zu ergreifen, die einen weiteren Arbeitsplatzverlust verhindern, den Beschäftigten Sicherheit in dieser Zeit tiefgreifender Transformationen geben und neue Potenziale an Fachkräften erschließen.“
Dazu gehöre neben einer aktiven Industriepolitik, die Arbeitsplätze sichert, vor allem ein Ausbau der Weiterbildung, um Beschäftigte in Zeiten eines zunehmend volatilen Arbeitsmarktes im Arbeitsmarkt halten zu können. Die im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP vereinbarte Bildungs(teil)zeit wäre für Kohlrausch und Polloczek ein wichtiges Instrument, um den Zugang zur Weiterbildung zu erhöhen. Sie wurde aber bis zum Ende der Koalition nicht umgesetzt. Staatliche Unterstützung bei der Weiterbildung Beschäftigter im Betrieb biete das neu eingeführte Qualifizierungsgeld. Es müsse sich jedoch erst noch zeigen, ob das Instrument in seiner jetzigen Ausgestaltung auch dazu in der Lage ist, Ungleichheiten beim Zugang von Weiterbildung auszugleichen, um vor allem benachteiligte Personengruppen in der Transformation nicht zu verlieren. Insbesondere wenn die Entgeltersatzleistung (60 bzw. 65 Prozent) nicht durch den Arbeitgeber aufgestockt wird, sei zu befürchten, dass dies eine Inanspruchnahme insbesondere in Bereich niedriger Einkommensgruppen hemmt.
Parallel und noch grundsätzlicher brauche es den Aufbau einer inklusiven Bildungsstruktur, beginnenden bei der frühkindlichen Bildung bis hin zu einer systematischen Unterstützung beim Übergang in eine berufliche Ausbildung, analysieren die WSI-Expertinnen. Dazu gehörten mehr pädagogische Ressourcen an Schulen, um auf die größer werdende Heterogenität in der Schüler*innenschaft zu reagieren und um insbesondere Kinder und Jugendliche mit Flucht- und Migrationsgeschichte früh gut zu integrieren. Genauso wie ein Arbeitsmarkt und Betriebe, die sich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Beschäftigten, seien es ältere Beschäftigte oder Beschäftigte mit Sorgeverantwortung, einstellen.
Prof. Dr. Bettina Kohlrausch
Wissenschaftliche Direktorin WSI
Tel.: 0211-7778-186
E-Mail: Bettina-Kohlrausch@boeckler.de
Magdalena Polloczek
WSI-Expertin Aus- und Weiterbildung für eine transformierte Arbeitswelt
Tel.: 0211-7778-333
E-Mail: Magdalena-Polloczek@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
*Bettina Kohlrausch, Magdalena Polloczek: Fachkräftemangel mit den Menschen beheben – nicht gegen sie. WSI Kommentar Nr. 5, Dezember 2024. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009015
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).