Wie soziales Imaginieren genau funktioniert, ist bisher kaum erforscht. Das will die Friedrich-Schiller-Universität Jena nun ändern: Mit dem Forschungsprojekt „Imaginamics“ bewirbt sie sich derzeit in der Finalrunde des Exzellenz-Wettbewerbs der deutschen Spitzenforschung um ein Exzellenzcluster zu diesem Thema. Um diese Ansprüche zu untermauern und um das Thema des sozialen Imaginierens als interdisziplinären Forschungsschwerpunkt weiter zu etablieren, hat die Universität Jena das neue Graduiertenkolleg „Explorations in Practices and Dynamics of Social Imagining” gegründet, das heute (10.4.) feierlich eröffnet wird.
Um sich die Welt zu erklären, schaffen Menschen von jeher Bilder – und zwar nicht nur individuell, sondern auch als Gesellschaft. Gemeinsame Imaginationen können Menschen miteinander verbinden und Gesellschaften zusammenhalten, sie aber auch spalten oder falsche Vorstellungen über die Zeit hinweg weitertragen. Wie dieses soziale Imaginieren genau funktioniert, ist allerdings bisher kaum erforscht. Das will die Friedrich-Schiller-Universität Jena nun ändern: Mit dem Forschungsprojekt „Imaginamics“ bewirbt sie sich derzeit in der Finalrunde des Exzellenz-Wettbewerbs der deutschen Spitzenforschung um ein Exzellenzcluster zu diesem Thema. Um diese Ansprüche zu untermauern und um das Thema des sozialen Imaginierens als interdisziplinären Forschungsschwerpunkt weiter zu etablieren, hat die Universität Jena das neue Graduiertenkolleg „Explorations in Practices and Dynamics of Social Imagining” gegründet, das heute (10.4.) feierlich eröffnet wird. Das Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur fördert das Graduiertenkolleg für die kommenden dreieinhalb Jahre. In diesem Zeitraum erforschen sechs Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen ihrer Promotion, wie sich das soziale Imaginieren in verschiedenen Bereichen ausgewirkt hat, welche Praktiken damit verbunden sind und welche Bedingungen es anregen. Die Bandbreite ihrer Projekte zeigt die Bedeutung des Forschungsfeldes.
Politik und Literatur
Welche Bedeutung soziales Imaginieren in aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen haben kann, erforscht Aline Riedle in ihrem Promotionsprojekt. Sie untersucht, wie soziale Imaginationen aus dem Engagement zivilgesellschaftlicher Bündnisse für Demokratie in Thüringen hervorgehen. Zum einen fließen in die gemeinsamen Vorstellungen sowohl kollektive Praktiken und Alltagserfahrungen einzelner Akteurinnen und Akteure ein. Zum anderen führen das Mitwirken von KZ-Gedenkstätten und der Einfluss erinnerungskultureller Diskurse dazu, dass gegenwärtige Vorstellungen auch einem Einfluss historischer Prozesse unterliegen. „Wie sich die jeweiligen Aspekte auf soziales Imaginieren auswirken, möchte ich mit ethnografischen Methoden untersuchen“, erklärt die Empirische Kulturwissenschaftlerin. „Das bedeutet, dass Phänomene durch sinnverstehendes Miterleben dort beobachtet werden, wo sie stattfinden.“
Carmen Pereyra nähert sich dem Thema über die Literatur. Sie untersucht, wie Autorinnen und Autoren aus Lateinamerika und Mitteleuropa von Krisen erzählen und wie sie sich in dystopischen Romanen das Ende der Welt vorstellen. Sie fokussiert sich auf diese beiden Regionen, weil sie durch eine gemeinsame Kolonialgeschichte verbunden sind. „Derzeit entstehen in Lateinamerika viele Werke, die analysieren, wie der Kolonialismus die einzelnen Staaten und Gesellschaften dahin geführt hat, wo sie heute sind, und ob er die Vorstellungen gegenwärtiger und zukünftiger Krisen beeinflusst hat“, berichtet die Argentinierin. Diese Texte hinterfragen eurozentrische Vorstellungen von Fortschritt, indem sie die Moderne als ein unvollendetes, oft gewalttätiges Projekt entlarven. In der neueren lateinamerikanischen phantastischen Belletristik werden beispielsweise erzählerische Mittel wie Zeitschleifen und historische Rückblicke eingesetzt, die Figuren und Leser dazu zwingen, sich mit den ungelösten Geistern des Kolonialismus auseinanderzusetzen. Durch die Untersuchung dieser Literaturen argumentiert Pereyra, dass dystopische Werke als kulturelle Ausdrucksformen sozialer Imaginationen über die bloße Widerspiegelung gegenwärtiger Ängste hinausgehen. Stattdessen beteiligen sie sich aktiv an der Schaffung und Neugestaltung zukünftiger Möglichkeiten und haben materielle Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Gesellschaften Krisen wahrnehmen, sich darauf vorbereiten und ihnen sogar widerstehen.
Biologie und Medizin
Die koloniale Vergangenheit spielt ebenso in Jenny Merkers Projekt eine zentrale Rolle. Sie untersucht, wie koloniale Wissenspraktiken die Tierkunde des 17. und 18. Jahrhunderts beeinflussten und welche langfristigen Auswirkungen dies auf die Wahrnehmung von Natur hatte. Naturforscher klassifizierten neu entdeckte Tierarten nicht neutral, sondern innerhalb kolonialer Wissenssysteme, die europäische Deutungsmuster privilegierten. Dabei waren imaginative Praktiken nicht nur ein Produkt kolonialer Strukturen, sondern trugen aktiv zu deren Entstehung und Verfestigung bei. Sie bestimmten, welche Tiere als bedeutsam galten, wie sie benannt wurden und welche kulturellen Zuschreibungen sie erhielten. Die Doktorandin analysiert, wie tierkundliche Beschreibungen mit kolonialen Ordnungslogiken verwoben waren, auf welchen Wissensquellen sie basierten und wie Sammlungsobjekte – etwa präparierte oder anderweitig konservierte Exemplare – in europäischen Naturalienkabinetten und Wunderkammern angeordnet wurden. Dabei untersucht sie, wie diese Sammlungen nicht nur koloniale Hierarchien widerspiegelten, sondern aktiv zur Konstruktion kolonialer Wissens- und Machtansprüche beitrugen.
Auch in Azia Lafleurs Projekt spielen Sammlungen und deren Präsentation eine wesentliche Rolle – allerdings im medizinischen Bereich. Sie erforscht, wie medizinische Museen als kollektive Räume funktionieren, in denen Geschichten erzählt, produziert und kommuniziert werden, die unsere gesellschaftliche Vorstellung von Gesundheit, Krankheit und Behinderung widerspiegeln. „Museen können uns daran erinnern, wie unsere eigenen Erfahrungen in ein Gewebe aus historischen und kulturellen Dimensionen eingebettet und verwoben sind“, erklärt sie. „Im Mittelpunkt meines Interesses stehen potenzielle Aspekte solcher Erzählungen, die die Vorstellung von körperlichen und geistigen Unterschieden ermöglichen und welche sozialen Imaginationen dies hervorruft.“ Ihr Ziel sei es, dieses Phänomen besser zu verstehen und dazu beizutragen, reichhaltigere, umfassendere und pluralistischere Geschichten über Gesundheit, Krankheit, Behinderung und Medizin in Bezug auf unsere Lebenswirklichkeit zu ermöglichen.
Geschichte und Philosophie
Bilder sind der ganz konkrete Forschungsgegenstand von John Norrman. Er beschäftigt sich damit, wie Karikaturen die Krisenvorstellungen während der europäischen Revolutionen von 1848 und 1849 imaginieren. „Karikaturen repräsentieren wie kaum ein anderes Medium das soziale Imaginieren“, erklärt der schwedische Historiker. „Man kann praktisch direkt beobachten, wie es als Praxis passiert. Karikieren bedeutet, etwas objektiv zu beobachten und dann in etwas Subjektives umzuformen.“ Norrman interessiert besonders, wie dieses „transeuropäische Massenmedium“ die revolutionären Krisen Mitte des 19. Jahrhunderts als passenden Zeitpunkt für gesellschaftliche Veränderungen begriff und nicht nur als eine Art gesellschaftliche Krankheit, die geheilt werden müsse. „Ich habe mich bisher bereits viel damit beschäftigt, wie Darstellungen in Bildern funktionieren – wie sie etwa als Propaganda eingesetzt werden oder das Verständnis von Geschlechterbildern aufgreifen. Die neue Umgebung, der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen sowie die aktuelle Jenaer Forschung zu diesem Thema erweitern meine Methodenpalette enorm“, formuliert der Doktorand seine Erwartungen an das neue Graduiertenkolleg.
Die erhofften Impulse kann wahrscheinlich auch die Arbeit von Francesca Casciotta liefern. Denn sie will eine Art theoretischen Überbau für das Soziale Imaginieren entwickeln. „Derzeit gibt es sehr viele praktische Beispiele, um das Phänomen und seine Praktiken zu beschreiben, aber um es theoretisch zu fassen, fehlt häufig die begriffliche Präzision“, erklärt die Italienerin. „Hierfür möchte ich Werkzeuge und Mittel erarbeiten.“ Für ihr Vorhaben betrachtet sie die Phänomenologie nach Edmund Husserl als vielversprechendste Basis. Diese philosophische Methode erlaube es, frei von empirischen Einflüssen, Erlebnisse des Sozialen Imaginierens zu analysieren, deren Variantenvielfalt freizulegen und notwendige Bedingungen der Möglichkeiten aufzuzeigen. Dass sie mit ihrem Projekt in Jena am genau richtigen Ort ist, davon ist die junge Philosophin überzeugt. „Ich habe bereits für meine Masterarbeit hier geforscht und dabei eine sehr anregende und fruchtbare Atmosphäre vorgefunden“, sagt sie. „Es herrscht eine große Freiheit für Diskussionen vor, die ich an anderen Universitäten so nicht erfahren habe.“
Dr. Claudia Schroth
Koordinatorin der Exzellenzcluster-Initiative „Imaginamics: Practices and Dynamics of Social Imagining"
Bachstraße 18k, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 944243
E-Mail: claudia.schroth@uni-jena.de
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kunst / Design, Politik, Sprache / Literatur
überregional
Forschungsprojekte
Deutsch
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