Die Covid-19-Pandemie, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, geopolitische Spannungen, der Klimawandel und andere Ereignisse machen deutlich, dass wir zunehmend verschachtelten, miteinander verknüpften Risiken ausgesetzt sind. Angesichts dieser neuen Entwicklungen hat sich der Schwerpunkt der Risikoforschung hin zu umfassenden Analysen von sich gegenseitig beeinflussenden Risikoquellen und Krisen verlagert. Im International Journal of Disaster Risk Science liefern Huan Liu (Kyoto University) und Ortwin Renn (Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit) einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Polykrisen und systemischen Risiken.
Zunächst klären die Forschenden die Begriffe „Polykrise“ und „systemische Risiken“ unter Darstellung ihrer theoretischen Grundlagen, historischen Entwicklungen und praktischen Relevanz. Der wesentliche Unterschied besteht demnach darin, dass die Polykrise mehrere miteinander verbundene Krisen umfasst, die gleichzeitig in verschiedenen Systemen auftreten und sich gegenseitig verstärken. Der Begriff der systemischen Risiken hingegen bezieht sich auf Risiken innerhalb eines einzelnen Systems, die zu einem weitreichenden Versagen führen, sich aber auch auf andere Risikobereiche ausdehnen können. Zusätzlich beziehen sich Krisen auf bereits eingetretene Ereignisse, während Risiken auf drohende, aber noch nicht eingetretene Ereignisse hinweisen.
Komplexität stellt Risikobewertung vor Herausforderungen
Bei der Risikobewertung werden Risiken traditionell unabhängig voneinander analysiert, um im Idealfall Schäden vorab zu vermeiden oder in ihren Auswirkungen zu mindern. Risiken, die sich zu Polykrisen entwickeln können, erfordern aber neue, integrierte Ansätze, um Wechselwirkungen, Kaskadeneffekte und komplexe Interaktionen zwischen mehreren Systemen zu berücksichtigen. Dazu Ortwin Renn: „Die Risikobewertung in Polykrisen ist vor allem aufgrund der Komplexität, wechselseitigen Abhängigkeit und Unvorhersehbarkeit der Risiken eine Herausforderung. Datenknappheit, unvollständige Informationen und die Dynamik von Krisen erschweren zudem eine genaue Bewertung. Deshalb kommt es bei der Bewertung vor allem darauf an, die Wechselwirkungen selbst zum Hauptgegenstand der wissenschaftlichen Modellierung zu stellen, um kombinierte Effekte möglichst genau zu bestimmen.“
Besonders vielversprechend seien dafür integrierte Methoden der Modellierung, mit denen sich die für komplexe Systeme charakteristischen nichtlinearen Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen erfassen lassen. Sie könnten helfen, Schwachstellen aufzudecken, die Vorhersagefähigkeit zu verbessern und wirksamere Strategien zur Risikominderung zu entwickeln.
„Beim Risikomanagement“, so Huan Liu, „kommt es vor allem darauf an, die Widerstandsfähigkeit eines Systems so zu stärken, dass die Funktionalität des Systems auch bei mehreren parallel eintretenden Krisen gewährleistet oder in kurzer Zeit wiederhergestellt werden kann.“ Dazu eignen sich Stresstests und die Simulation von mehreren parallel verlaufenden Krisen.
Kommunikation ist entscheidend für das Vertrauen der Öffentlichkeit
Bei der Bewältigung von Polykrisen spielt laut Liu und Renn die Kommunikation eine entscheidende Rolle. Sie kann Transparenz fördern, Vertrauen stärken und eine inklusive Beteiligung aller Interessengruppen ermöglichen. Eine effektive Risikokommunikation vermittelt komplexe und unsichere Informationen auf eine Weise, die für unterschiedliche Zielgruppen, wie Öffentlichkeit, Politik sowie Expertinnen und Experten, verständlich und glaubwürdig ist. Sie schafft außerdem Raum für einen offenen Dialog. In Krisenzeiten, wenn Fehlinformationen und Gerüchte sich schnell verbreiten können, sind strukturierte Kommunikationsansätze entscheidend für das Vertrauen der Öffentlichkeit und die Gewährleistung koordinierter Reaktionen, die auf den ersten Blick für Außenstehende oft wenig plausibel erscheinen, aber den gewünschten Effekt am ehesten herstellen können.
Diese ganzheitliche Perspektive ermöglicht es politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern sowie Praktikerinnen und Praktikern, Kaskadeneffekte besser zu antizipieren, adaptive Strategien zu entwickeln und die Widerstandsfähigkeit verschiedener Systeme – klimatischer, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art – zu stärken. Letztendlich erleichtert sie koordinierte Reaktionen, die robuster sind und die vielfältigen Herausforderungen der aktuellen globalen Krisen besser bewältigen können.
Der Übersichtsartikel entstand ursprünglich im Rahmen des Internationalen Symposiums zu systemischen Risiken und Polykrisen, das 2024 in Peking stattfand. Er dient als grundlegender Beitrag zu einer Sonderausgabe des International Journal of Disaster Risk Science, die später im Jahr 2025 erscheinen wird.
Prof. Dr. Ortwin Renn
ortwin.renn@rifs-potsdam.de
Liu, H., Renn, O. Polycrisis and Systemic Risk: Assessment, Governance, and Communication. Int J Disaster Risk Sci (2025). https://doi.org/10.1007/s13753-025-00636-3
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Politik
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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