Der Europäische Forschungsrat (ERC) zeichnet die Historikerin und Sozialanthropologin Dr. Volha Bartash mit einem prestigeträchtigen Consolidator Grant aus, verbunden mit einer Förderung von rund zwei Millionen Euro. Am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg entsteht damit ein neues Forschungsprojekt zum bisher wenig beachteten NS-Völkermord an den Sinti und Roma in Ost- und Ostmitteleuropa. Ziel ist, gemeinsam mit Sinti- und Roma-Gemeinschaften vergessene Erinnerungsstätten zu identifizieren und diese Stätten der Gewalt in Orte der Selbstermächtigung zu verwandeln.
Während des Zweiten Weltkriegs fielen mehrere hunderttausend Sinti und Roma dem nationalsozialistischen Massenmord zum Opfer, vor allem in Ost- und Ostmitteleuropa. Dennoch sind ihre Schicksale der Öffentlichkeit bis heute weitgehend unbekannt und in der europäischen Erinnerungskultur unterrepräsentiert. Gründe dafür sind unter anderem fehlende Dokumentation und das Ausblenden des Genozids an den Roma- und Sinti in der Erinnerungspolitik der Nachkriegszeit, nicht zuletzt in den realsozialistischen Staaten. Viele Orte dieses Völkermords – Massenvernichtungsstätten, Arbeitslager und Gefängnisse – sind nach wie vor nicht öffentlich als solche gekennzeichnet und drohen zu verfallen. Bartashs Forschungsprojekt „EMPOWER: Empowering Legacy. Sites of Romani Genocide and Community Commemoration in East and East-Central Europe“ wird diese Orte wieder ins allgemeine Bewusstsein holen und dazu beitragen, dass aus ihnen Stätten der Selbstermächtigung und Solidarität werden.
Das Forschungsprojekt ist auf fünf Jahre angelegt. Neben Bartashs eigener Stelle werden drei weitere Stellen für Postdoktorand*innen am IOS entstehen.
Das Projekt beleuchtet, wie Sinti- und Roma-Gemeinden seit der Nachkriegszeit bis heute an Völkermordstätten in sieben mittelosteuropäischen Ländern erinnert und ihrer verlorenen Familienmitglieder gedacht haben. Die Forschenden verfolgen dabei einen gemeinschaftsorientierten Ansatz: Sie beziehen Sinti- und Roma-Gemeinschaften aktiv in die Datenerhebung und Kommunikation ein. Neben wissenschaftlichen Publikationen werden im Zuge des Vorhabens ein kurzer Dokumentarfilm und eine Wanderausstellung entstehen. Ebenso Teil des Vorhabens ist eine Online-Plattform mit interaktiven Karten zur Visualisierung der Erinnerungslandschaften der Sinti und Roma, Biografien von Aktivist*innen und historischen Dokumenten in den lokalen Sprachen (darunter Romani) sowie in englischer Übersetzung. All dies soll sicherstellen, dass die Ergebnisse des Projekts einem breiten Publikum zugänglich bleiben.
Bartash: „Wir wollen einen wichtigen Abschnitt Geschichte, der viel zu oft ignoriert und verleugnet wurde, besser sichtbar und zugänglich machen. Zusammen mit Familien der Überlebenden, lokalen Aktivistinnen und Aktivisten sowie durch Recherchen in lokalen Archiven wird unser Forschungsteam nachzeichnen, wie Sinti- und Roma-Gemeinschaften seit den frühen Nachkriegsjahren mit diesen Orten von Massenmorden und Zwangsinternierungen umgegangen sind. Mit dem Fokus auf Gemeinschaftsinitiativen und deren Auswirkungen werden wir verdeutlichen, wie diese Orte Solidarität und Veränderung inspirieren.“
Prof. Dr. Ulf Brunnbauer, Wissenschaftlicher Direktor des IOS: „Für uns ist es eine große Ehre und Auszeichnung, eine so exzellente Wissenschaftlerin am Institut zu wissen. Es ist unverständlich und beschämend, dass der Genozid an den Sinti und Roma bisher so wenig Beachtung erfahren hat. Volha Bartash wird hier nicht nur exzellente Forschung, sondern auch einen wesentlichen Beitrag zu einer umfassenden deutschen und europäischen Erinnerungskultur leisten.“
Der ERC Consolidator Grant ist eine der renommiertesten Auszeichnungen in Europa für Forschende in der Mitte ihrer Karrierephase. Diese Förderlinie des European Research Council unterstützt risikoreiche, aber erfolgversprechende innovative Projekte herausragender Forschender. 2025 hatte es europaweit 3121 Bewerbungen für einen Consolidator Grant gegeben, von denen 349 zur Förderung ausgewählt wurden, was einer Erfolgsquote von 11,2 Prozent entspricht.
Zur Person:
Dr. Volha Bartash ist Historikerin und Sozialanthropologin mit Schwerpunkt Osteuropa, deren Arbeit die Erfahrungen und Erinnerungen vulnerabler und marginalisierter Gemeinschaften beleuchtet. Sie hatte Forschungs- und Lehraufträge an der Universität Münster und der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Universität Regensburg inne und erhielt für ihre bahnbrechende Studie über Erinnerungskultur der Roma in Belarus und Litauen das renommierte Marie-Skłodowska-Curie-Stipendium, mit dem sie schon einmal am IOS forschte. Bartash hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte und Erinnerung an den NS-Völkermord an den Sinti und Roma verfasst. Methodisch kombiniert sie Archivforschung, Oral History und Ethnografie und legt dabei einen Fokus darauf, Geschichte „von unten“ zu schreiben. Bartash war Stipendiatin am United States Holocaust Memorial Museum, am Helsinki Collegium for Advanced Studies, am Wiener Wiesenthal Institut, am Imre Kertész Kolleg Jena und an der Universität Uppsala. 2024 wurde sie mit dem Vilis-Vītols-Preis der Association for the Advancement of Baltic Studies ausgezeichnet.
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Mit mehr als 80 Mitarbeiter*innen aus über einem Dutzend Ländern ist das Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) mit Sitz in Regensburg eine der größten Einrichtungen seiner Art. Aufgabe ist die Analyse historischer und gegenwärtiger Dynamiken in Ost- und Südosteuropa – und zwar aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Am IOS forschen Geschichts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler*innen gemeinsam. Daneben veröffentlicht das Institut Fachzeitschriften und Buchreihen, fördert den akademischen Nachwuchs und beherbergt eine international führende Fachbibliothek. Mehr auf: www.leibniz-ios.de
Dr. Volha Bartash erhält für ihr Forschungsprojekt zum häufig verdrängten NS-Völkermord an den Sinti ...
Quelle: Valentin Kordas
Copyright: IOS/Kordas
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Geschichte / Archäologie
überregional
Forschungsprojekte, Wettbewerbe / Auszeichnungen
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Dr. Volha Bartash erhält für ihr Forschungsprojekt zum häufig verdrängten NS-Völkermord an den Sinti ...
Quelle: Valentin Kordas
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