idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
18.01.2017 15:14

Wenn Stillen auf die Hörner geht - 45.000 Jahre alte Mangelerscheinung bei Bisonkuh entdeckt

Judith Jördens Senckenberg Pressestelle
Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen

    Weimar, den 18.01.2017. Erstmalig hat Senckenberg-Wissenschaftler Prof. Dr. Ralf-Dietrich Kahlke gemeinsam mit seinen Kooperationspartnern nachgewiesen, dass Trächtigkeit und Säugen bei einem wildlebenden Pflanzenfresser zu gravierenden Mangelerscheinungen führen können. Das Wissenschaftlerteam fand entsprechende Indizien an einem etwa 45.000 Jahre alten Hornzapfen einer eiszeitlichen Bisonkuh. Bisher war Knochenabbau an Hornzapfen durch Stoffwechselbelastungen nur von Nutztieren bekannt. Die Studie wurde kürzlich im Fachjournal „International Journal of Paleopathology“ veröffentlicht.

    Von heutigen Milchkühen sind die Anzeichen bekannt: Werden diese zu häufig und zu intensiv gemolken („overmilking“), so kann dies zur Entstehung von schwerwiegenden Skelettveränderungen führen. An den Hornzapfen der Tiere können sogar Löcher von einigen Zentimetern Durchmesser entstehen. „Wir haben nun erstmals vergleichbare Hornzapfenveränderungen bei einem wildlebenden Tier aus der letzten Eiszeit entdeckt“, erklärt Prof. Dr. Ralf-Dietrich Kahlke von der Senckenberg Forschungsstation für Quartärpaläontologie in Weimar.

    Der Eiszeitforscher hat gemeinsam mit seinen Kollegen den Hornzapfen einer vor etwa 45.000 Jahren lebenden Steppenbisonkuh (Bison priscus) untersucht. Die zu den Schädelknochen zählenden Hornzapfen werden fossil relativ häufig überliefert; die aus Keratin bestehenden Hornscheiden bleiben dagegen nur in Ausnahmefällen, beispielsweise im Dauerfrostboden, erhalten.
    „Bei unserer Untersuchung sind uns zwei mehrere Zentimeter große und tiefe Löcher aufgefallen“, erläutert Prof. Dr. Uwe Kierdorf von der Universität Hildesheim und Erstautor der Studie. Das Wissenschaftlerteam führt die Vertiefungen im Horn auf eine Mangelerscheinung in Folge von Trächtigkeit und/oder Stillzeit zurück. In Zeiten extremer Belastungen, wie beispielsweise einer Unterernährung, baut der Körper Mineralstoffe aus dem Skelett ab, um sie für lebenswichtige Prozesse einzusetzen. Bei der Bisonkuh fand eine solche Resorption an den knöchernen Hornzapfen statt – ein „cleverer Schachzug“, findet Kahlke, denn „weibliche Bisons setzen ihre Hörner nur selten starker mechanischer Beanspruchung aus; ein Materialverlust an dieser Stelle ist also zu verkraften.“

    Doch wie konnte es überhaupt zu den Mangelerscheinungen kommen? Der Hornzapfen wurde in Mecklenburg-Vorpommern von einem privaten Sammler gefunden und ist auf etwa 45.000 Jahre datiert. Zu dieser Zeit, dem späten Pleistozän, lag der Lebensraum der Bisonkuh mehrere hundert Kilometer südlich des skandinavischen Eisschildes und war daher eisfrei. „Man könnte demnach davon ausgehen, dass Tiere – auch bei erhöhten Kalorienbedarf – in dieser Zeit und Region keinen Mangel litten, dem war aber offenbar nicht so“, ergänzt der Quartärpaläontologe aus Weimar. Die Wissenschaftler gehen vielmehr davon aus, dass die Wiederbewaldung, welche in diesem Abschnitt der Erdgeschichte im heutigen Mecklenburg-Vorpommern stattfand, grasfressenden Tierarten das Leben schwermachte. „Die geringeren Nahrungsangebote durch weniger Weideland gekoppelt mit dem erhöhten Energiebedarf während der Trächtigkeiten führten dann wahrscheinlich zu der Reaktion des Körpers bei der untersuchten Bisonkuh“, fügt Kierdorf hinzu.

    Dennoch scheint das Tier die Doppelbelastung überlebt zu haben: Die vermutlich sehr kräftige Kuh überstand nach Aussage des Wissenschaftlerteams wahrscheinlich sogar zwei Trächtigkeiten und das anschließende Säugen ihrer Jungtiere – die körperlichen Strapazen dokumentierten sich aber in ihren Hörnern.

    „Wir möchten nun gerne weitere Hornzapfen von weiblichen Bisons untersuchen, um unsere These zu festigen und eventuelle Regelhaftigkeiten für die fossile Parallele des ‚Übermelkens’ bei Wildtieren zu finden“, gibt Kahlke einen Ausblick.

    Kontakt
    Prof. Dr. Ralf-Dietrich Kahlke
    Senckenberg Forschungsstation für Quartärpaläontologie
    Tel. 03643- 493093330
    rdkahlke@senckenberg.de

    Judith Jördens
    Pressestelle
    Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
    Tel. 069- 7542 1434
    pressestelle@senckenberg.de

    Publikation
    Kierdorf, U., Meng, Stefan & Kahlke, Ralf-Dietrich, Resorptive depressions on a horn core of Late Pleistocene (MIS 3) Bison priscus (Bovidae, Mammalia) from northeastern Germany. Int. J. Paleopathol. (2016), http://dx.doi.org/10.1016/j.ijpp.2016.08.006

    Pressebilder können kostenfrei für redaktionelle Berichterstattung verwendet werden unter der Voraussetzung, dass der genannte Urheber mit veröffentlicht wird. Eine Weitergabe an Dritte ist nur im Rahmen der aktuellen Berichterstattung zulässig.

    Pressemitteilung und Bildmaterial finden Sie auch unter www.senckenberg.de/presse

    Die Natur mit ihrer unendlichen Vielfalt an Lebensformen zu erforschen und zu verstehen, um sie als Lebensgrundlage für zukünftige Generationen erhalten und nachhaltig nutzen zu können - dafür arbeitet die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung seit nunmehr 200 Jahren. Diese integrative „Geobiodiversitätsforschung“ sowie die Vermittlung von Forschung und Wissenschaft sind die Aufgaben Senckenbergs. Drei Naturmuseen in Frankfurt, Görlitz und Dresden zeigen die Vielfalt des Lebens und die Entwicklung der Erde über Jahrmillionen. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main wird von der Stadt Frankfurt am Main sowie vielen weiteren Partnern gefördert. Mehr Informationen unter www.senckenberg.de.

    200 Jahre Senckenberg! 2017 ist Jubiläumsjahr bei Senckenberg – die 1817 gegründete Gesellschaft forscht seit 200 Jahren mit Neugier, Leidenschaft und Engagement für die Natur. Seine 200-jährige Erfolgsgeschichte feiert Senckenberg mit einem bunten Programm, das aus vielen Veranstaltungen, eigens erstellten Ausstellungen und einem großen Museumsfest im Herbst besteht. Natürlich werden auch die aktuelle Forschung und zukünftige Projekte präsentiert. Mehr Infos unter: www.200jahresenckenberg.de.


    Bilder

    Über 45.000 Jahre alter rechter Hornzapfen eines weiblichen Steppenbisons von Langsdorf bei Tribsees (Mecklenburg-Vorpommern).
    Über 45.000 Jahre alter rechter Hornzapfen eines weiblichen Steppenbisons von Langsdorf bei Tribsees ...
    T. Korn, Senckenberg Weimar
    None

    Rekonstruktion eines späteiszeitlichen Steppenbisons (Bison priscus), Bronzeskulptur von R.-D. Guthrie (Fairbanks)
    Rekonstruktion eines späteiszeitlichen Steppenbisons (Bison priscus), Bronzeskulptur von R.-D. Guthr ...
    S. Döring, Senckenberg Weimar
    None


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Geowissenschaften
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).