idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
30.05.2023 17:22

Früherkennung der Sepsis durch Maschinelles Lernen

Dr. Eva Maria Wellnitz Wissenschaftskommunikation der Medizinischen Fakultät
Universitätsmedizin Mannheim

    Verbundprojekt SCIDATOS zeigt, dass klinische „Ground Truth“ einen Goldstandard für die Sepsis-Diagnose darstellen kann

    Sepsis ist ein lebensbedrohlicher Zustand und eine der häufigsten Todesursachen auf Intensivstationen. Bei einer Sepsis antwortet der Körper auf eine meist durch Bakterien verursachte Infektion, indem er die eigenen Gewebe und Organe schädigt, bis hin zum Organversagen. Für das Überleben einer Sepsis ist es entscheidend, sie rechtzeitig zu erkennen und gezielt antimikrobiell zu behandeln. Hierfür bleibt meist nur ein Zeitfenster von wenigen Stunden.

    Da es bislang keinen raschen und zuverlässigen diagnostischen Test für das heterogene Krankheitsbild der Sepsis gibt, hängt die Entscheidung über die zeitkritische Therapie mit einem Antibiotikum nach wie vor wesentlich von der ärztlichen Einschätzung im Einzelfall ab. Einem prophylaktischen Einsatz von Antibiotika steht das Risiko von Antibiotikaresistenzen entgegen, die ebenfalls viele Todesopfer fordern – allein in Europa jährlich etwa 35.000.

    Der Wunsch nach einer verlässlichen Früherkennung der Sepsis sowie die heutige Verfügbarkeit engmaschig erhobener elektronischer Versorgungs- und Überwachungsdaten von der Intensivstation befeuern derzeit die Entwicklung von Modellen für die individuelle Früherkennung der Sepsis mithilfe moderner Methoden des Maschinellen Lernens. Diese Maschinenlernmodelle, sogenannte ML-Modelle, sollen die ärztliche Entscheidung über eine zeitnahe und zielgerichtete Antibiotikatherapie unterstützen. Das akute Überleben soll damit verbessert und das Risiko für die Entstehung von Antibiotikaresistenzen reduziert werden. Von interpretierbaren ML-Modellen wird außerdem erwartet, dass sie das Verständnis darüber, wie eine Sepsis entsteht, verbessern, indem sie neue Zusammenhänge in Patientendaten sichtbar machen. Sie sollen damit dazu beitragen, neue diagnostische Tests und Therapien entwickeln zu können.

    Dieses Ziel verfolgt auch das durch die Klaus Tschira Stiftung (KTS) geförderte Verbundprojekt der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) und des Interdisziplinären Zentrums für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) der Universität Heidelberg, Scientific Computing for the Improved Diagnosis and Therapy of Sepsis (SCIDATOS). „Bislang steht der Nachweis eines klinischen Nutzens von ML-Modellen für die Diagnose und Behandlung der Sepsis leider noch aus“, bemerkt Professor Dr. Manfred Thiel, Verbund-Koordinator an der UMM, kritisch.

    Die SCIDATOS-Verbundpartner haben nun eine Schwachstelle identifiziert, die sie als Hauptursache dafür ansehen, dass ML-Modelle bislang nicht in der Lage sind, eine Sepsis sicher zu diagnostizieren. Der Knackpunkt ist die Definition des Vorhersageziels, auf das das ML-Modell trainiert wird. In der bisher gängigen Praxis wird das Lernziel indirekt durch die automatisierte Abfrage klinischer Kriterien aus der Patientenakte definiert. Da ML-Modelle nichts anderes vorhersagen als das, was sie vorherzusagen gelernt haben, rekonstruieren sie entsprechend genau diese Lernzieldefinition. Der Verbundpartner Professor Dr. Stefan Riezler vom IWR beschreibt dies als Zirkularität.

    Zur Überprüfung dieser Schwachstelle haben die Projektpartner zusammen mit den Oberärzten der Operativen Intensivstation an der UMM eine elektronische Fragebogenerhebung initiiert. Darin wird täglich für jeden Patienten eine strukturierte Zustandsbewertung hinsichtlich der Sepsis, die sogenannte klinische Ground Truth, erfasst. Mithilfe der Ergebnisse aus dem ersten Jahr dieser Ground Truth-Erhebung konnte der Verbund erstmalig zeigen, dass die gängige automatisierte Definition der Sepsis als Lernziel in der Patientenakte der klinischen Ground Truth in fast der Hälfte der Fälle hinterherhinkt oder die Sepsis nicht nachweisen kann. Diese Ergebnisse hat der Verbund SCIDATOS im Journal of Translational Medicine veröffentlicht.

    In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift The Lancet Digital Health resümieren Erstautor PD Dr. Holger A. Lindner und Seniorautorin PD Dr. Dr. Verena Schneider-Lindner (beide UMM), dass klinische Ground Truth ein lebendiges Konzept darstellt: „Solange kein verlässliches Testverfahren als Goldstandard für die Sepsis-Diagnose zur Verfügung steht, muss das Lernziel für ML-unterstützte Diagnosemodelle der Sepsis auf Basis der Ground Truth stetig aktualisiert werden.“ ML-Verfahren können ihr Potenzial zur Verbesserung der Patientenversorgung nur dann voll entfalten, wenn ein klinisches Vorhersageziel und die jeweilige Diagnose in der Praxis nachweislich übereinstimmen.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    PD Dr. Holger A. Lindner
    Universitätsmedizin Mannheim
    Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg
    Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin
    Institute for Innate Immunoscience (MI3)
    Theodor-Kutzer-Ufer 1-3
    D-68167 Mannheim
    E-Mail: Holger.Lindner@medma.uni-heidelberg.de


    Originalpublikation:

    Lindner HA, Thiel M, Schneider-Lindner V.
    Clinical ground truth in machine learning for early sepsis diagnosis.
    Lancet Digit Health. 2023;5(6):e338-e339
    DOI: https://doi.org/10.1016/S2589-7500(23)00070-5

    Lindner HA, Schamoni S, Kirschning T, Worm C, Hahn B, Centner FS, Schoettler JJ, Hagmann M, Krebs J, Mangold D, Nitsch S, Riezler S, Thiel M, Schneider-Lindner V.
    Ground truth labels challenge the validity of sepsis consensus definitions in critical illness.
    J Transl Med. 2022;20(1):27
    DOI: https://doi.org/10.1186/s12967-022-03228-7


    Bilder

    Maschinelles Lernen kann zur Früherkennung einer Sepsis beitragen, wenn das klinische Vorhersageziel und die Diagnose in der Praxis übereinstimmen.
    Maschinelles Lernen kann zur Früherkennung einer Sepsis beitragen, wenn das klinische Vorhersageziel ...

    UMM


    Anhang
    attachment icon Pressemitteilung

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Informationstechnik, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).