Eine Häufung spektakulärer Arbeitskämpfe hat in den letzten Jahren dem Thema Streik neue Aufmerksamkeit beschert. Die vorliegenden Daten lassen ebenfalls eine Zunahme von Auseinandersetzungen zwischen den Tarifparteien erkennen, im internationalen und im Zeitvergleich ist Deutschland aber derzeit weiter ein streikarmes Land. Das zeigt die Schwerpunktanalyse im neuen WSI-Tarifhandbuch 2008, das am heutigen Dienstag in Berlin vorgestellt wird.
"Die Zunahme der Streiks fällt auch deshalb so stark auf, weil wir seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine Phase mit außergewöhnlich wenigen Arbeitskämpfen erlebt haben. Einiges spricht dafür, dass diese Phase zu Ende geht - ohne dass Deutschland deshalb zu einer `Streikrepublik´ wird", sagt der Autor der Analyse, Dr. Heiner Dribbusch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Sowohl 2006, das bislang letzte Jahr, für das Daten aus der amtlichen Arbeitskampfstatistik vorliegen, als auch 2007 waren Jahre mit Aufsehen erregenden Arbeitskämpfen. Dies scheint sich 2008 fortzusetzen. In diesem Jahr beteiligten sich allein an den Warnstreiks in der Stahlindustrie und im Öffentlichen Dienst mehr als 470 000 Beschäftigte, ergibt eine Auswertung des WSI-Tarifarchivs. Über die Zahl der Streiktage liegt noch kein Überblick vor.
Die Zunahme von Arbeitskämpfen in den letzten Jahren zeigt nach Dribbuschs Untersuchung eine gestiegene Konfliktbereitschaft in Tarifauseinandersetzungen. Der Forscher unterscheidet vier Typen von Arbeitskonflikten:
- Der wirkungsvolle Warnstreik. Warnstreiks sind dann wirksam, wenn sie von den Arbeitgebern als glaubwürdige Streikdrohung verstanden werden müssen. Hierzu zählten in den letzten Jahren die breiten Warnstreiks in der Metall- und Stahlindustrie sowie die Streiks in der diesjährigen Tarifrunde des öffentlichen Dienstes. Erfolgreiche Warnstreiks sind in der Regel Ausdruck eines für die Gewerkschaften günstigen Kräfteverhältnisses. Ein weiterer Einflussfaktor waren in den letzten Jahren die gute konjunkturelle Lage und die hohen Gewinne vieler Unternehmen.
- Der offensive Erzwingungsstreik. Hierzu zählen die Streiks zur Durchsetzung eigener Tarifverträge durch Marburger Bund und GDL.
- Der Abwehrstreik. Diese Form des Streiks habe in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen, so Experte Dribbusch. Forderungen der Arbeitgeberseite nach finanziellen Einschnitten und/oder der Verlängerung von Wochenarbeitszeiten haben 2006 im öffentlichen Dienst, 2007 bei der Deutschen Telekom sowie aktuell bei der Deutschen Post zu heftigen Konflikten geführt. Im Kfz-Handwerk kämpft die IG Metall 2008 um den Erhalt der Tarifbindung in dieser Branche, nachdem in vielen Regionen die Innungen mit dem Ausstieg aus den Tarifverträgen begonnen haben. Klassische Abwehrstreiks sind auch alle Arbeitskämpfe im Zusammenhang mit Betriebsschließungen (z. B. AEG Nürnberg, BSH Berlin).
- Schließlich nennt Dribbusch Mischformen. Dazu gehörten seit vielen Jahren die Streiks im Einzelhandel, bei denen den Forderungen der Gewerkschaften Gegenforderungen der Einzelhandelsverbände gegenüber stehen. Deren Kompromissbereitschaft sei auch auf Grund einer strukturellen Arbeitskampfschwäche der Gewerkschaft in den letzten Jahren sehr gering, so der Forscher. Mit massivem Streikbruch würden Arbeitskämpfe unterlaufen und in die Länge gezogen. Eine wichtige Rolle dabei spiele der Einsatz von Leiharbeitnehmern. Ihr Einsatz in bestreikten Betrieben ist in Deutschland gesetzlich nicht verboten - anders als etwa in Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien oder Schweden.
Im langfristigen Zeitvergleich hat in Deutschland bis 2006 die Zahl der Arbeitskampftage jedoch abgenommen. Zwischen 2000 und 2006 fielen im Jahresdurchschnitt 4,1 Arbeitstage pro tausend Beschäftigte durch Streiks und Aussperrungen aus. Dagegen waren es in den 1990er Jahren 11,2 Tage und in den 80er Jahren 25,2 Tage. Während der 70er Jahre fielen im Jahresschnitt 50,7 Tage pro tausend Beschäftigte aus - auch bedingt durch großflächige Aussperrungen. Selbst in den 60er Jahren war das Niveau höher als seit der Jahrtausendwende.
Im internationalen Vergleich bleibt die Bundesrepublik ein streikarmes Land. So fielen zwischen 1995 und 2006 im Jahresdurchschnitt 3,6 Arbeitstage pro tausend Beschäftigte durch Arbeitskämpfe aus. In Kanada waren es hingegen 203,4 Arbeitstage, in Spanien 134,8, in Frankreich 91,4 und in Norwegen 74,3 Arbeitstage. Auch in Ländern wie den USA, Schweden oder den Niederlanden war die Quote der ausgefallenen Arbeitstage um ein Mehrfaches höher als in Deutschland. Lediglich die Schweiz unterbot mit durchschnittlich 2,8 Ausfalltagen die niedrige deutsche Streikquote.
Ein Grund für die im internationalen Vergleich niedrige Arbeitskampfintensität ist nach Dribbuschs Analyse ein vergleichsweise restriktives Streikrecht. Hierzu gehört das in Deutschland weitgehend akzeptierte Verbot politischer Streiks. Daneben trage auch das Prinzip der Einheitsgewerkschaft mit vergleichsweise wenigen Gewerkschaften, das sozialpartnerschaftlich angelegte Modell der Mitbestimmung sowie das System der Flächentarifverträge zur Verminderung der Konflikte bei. Veränderungen des Tarifsystems dürften daher auch Auswirkungen auf Zahl und Intensität der Auseinandersetzungen haben, so Dribbusch: "Sollte etwa der Trend zu Firmentarifverträgen weiter zunehmen, wird auch die Zahl der Arbeitskämpfe davon nicht unberührt bleiben."
http://www.boeckler.de/pdf/pm_ta_2008_04_29.pdf - PM mit Grafik-Anhang und Ansprechpartnern
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