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15.05.2008 12:10

Eugenische Argumentation im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Inzestverbot

Wolfgang Müller M.A. AWMF Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

    Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH):

    In seinem Urteil vom 26. Februar 2008 hat das Bundesverfassungsgericht die Strafbarkeit des Inzests unter Geschwistern bekräftigt (2 BvR 392/07). Neben kulturellen und sozialen Aspekten - Bewahrung der familiären Ordnung und Schutz "unterlegener" Partner - führt der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts zur Begründung auch eugenische Argumente an. In der Urteilsbegründung heißt es:
    "Der Gesetzgeber hat sich zusätzlich auf eugenische Gesichtspunkte gestützt und ist davon ausgegangen, dass bei Kindern, die aus einer inzestuösen Beziehung erwachsen, wegen der erhöhten Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen die Gefahr erheblicher Schädigungen nicht ausgeschlossen werden könne" (Abs. 27 der Urteilsbegründung). Dabei stützt man sich unter anderem auch auf die Stellungnahme des Generalbundesanwalts, der "... auch dem Schutz der Volksgesundheit ein legitimierendes Gewicht" zuspricht (Abs. 49).

    Es ist richtig, dass Kinder aus inzestuösen Verbindungen ein erhöhtes Risiko für rezessiv erbliche, in geringerem Ausmaß auch multifaktoriell bedingte Krankheiten haben. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik bewertet kulturelle und soziale Gründe im Zusammenhang des Inzesturteils nicht, sie hält die eugenische Begründung jedoch für unakzeptabel:
    - "Eugenik" bedeutet nach international übereinstimmendem Verständnis das dirigistische Bestreben nach einer - wie auch immer definierten - "Verbesserung" des kollektiven Erbgutbestandes einer Population. Inzestverbindungen von Geschwistern haben ohnehin keinen nennenswerten Einfluss auf die genetische Konstitution einer Population.
    - Wenn mit "eugenischen" Gesichtspunkten die an anderer Stelle der Urteilsbegründung so genannte "Volksgesundheit" gemeint ist, so müssten die Krankheitsrisiken der Kinder aus Geschwisterverbindungen gegen die Krankheitsrisiken der Kinder anderer Paare abgewogen werden. Das Argument, es müsse in Partnerschaften, deren Kinder ein erhöhtes Risiko für rezessiv erbliche Krankheiten haben, einer Fortpflanzung entgegengewirkt werden, ist ein Angriff auf die reproduktive Freiheit aller. So beträgt beispielsweise auch für ein nicht blutsverwandtes Elternpaar, das ein Kind mit einer rezessiv erblichen Krankheit wie z. B. Mukoviszidose (Zystische Fibrose) oder spinale Muskelatrophie bekommen hat, das Risiko für ein weiteres gemeinsames Kind 25 %, von der gleichen Krankheit betroffen zu sein. Bei bestimmten genetischen Konstellationen kann dieses Risiko sogar noch deutlich über 25 % hinausgehen. Dennoch wird für solche Elternpaare, genau wie für alle anderen Paare auch, die Entscheidungsfreiheit über die Verwirklichung ihres Kinderwunsches und die damit verbundene individuelle Risikobewertung aus guten Gründen zum unantastbaren Kernbestand des Persönlichkeitsrechtes gezählt.
    Dieser Konsens wird durch die Verallgemeinerung des vom Bundesverfassungsgericht mit Blick auf den seltenen Sonderfall des Inzests formulierten Gesetzgebungsziels einer "Vorsorge vor genetisch bedingten Krankheiten" (Abs. 56) ausgehöhlt.

    Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik empfiehlt nachdrücklich, auf der Ebene höchstrichterlicher Rechtsprechung auf eugenische Begriffe und Argumentationen zu verzichten. Diese sind sachlich falsch und leisten darüber hinaus der Diskriminierung von Menschen und Familien Vorschub, die ohnehin ein schweres Schicksal haben. Gerade weil dieser Gesichtspunkt "... historisch für die Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen missbraucht worden ist" (Abs. 49), sollte er vom höchsten Gericht in Deutschland nicht zur Rechtfertigung der Strafbarkeit des Inzests herangezogen werden.

    GfH-Vorstand:
    Prof. Dr. Peter Propping, Bonn (Vors.)
    Prof. Dr. André Reis, Erlangen
    Prof. Dr. Evelin Schröck, Dresden
    Prof. Dr. Bernhard Weber, Regensburg
    Prof. Dr. Christine Zühlke, Lübeck

    Weitere Auskünfte:
    Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e.V.(GfH)
    Inselkammerstr. 5
    82008 München-Unterhaching
    Tel 089-614 56 959
    Fax 089-55027856
    eMail: Kontakt@gfhev.de
    Website: http://www.gfhev.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Politik, Recht
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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