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24.09.2008 13:09

Vom Dotcom zum Cluster: Wie Ex-Intershop-Mitarbeiter Jena zum Software-Standort machten

Petra Mader Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Ökonomik

    Für Anleger war es ein teurer Alptraum. Nach jahrelangem explosionsartigem Höhenflug fielen die Aktien des "Neuen Marktes" in den Jahren 2000/2001 ins Bodenlose. Die Goldgräberstimmung der späten 1990er Jahre schlug in tiefe Enttäuschung um. Unter den am stärksten betroffenen Unternehmen war die Jenaer Intershop Communications AG, Pionier der Softwareentwicklung für den Internethandel und einst Vorzeigeunternehmen der deutschen New Economy. Wer Ende 2000 Intershop Aktien im Wert von 10 000 Euro besaß, bekam dafür Ende 2005 noch knapp 27 Euro. Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz kürte Intershop 2006 zum "größten Kapitalvernichter" unter den börsennotierten Unternehmen. Also außer Spesen nichts gewesen in der deutschen New Economy? Dieser Frage sind Guido Bünstorf vom Jenaer Max-Planck-Institut für Ökonomik und Dirk Fornahl von der Universität Karlsruhe anhand des Beispiels Intershop nachgegangen. Dabei haben sie die Entwicklung nicht aus Anlegersicht betrachtet, sondern eine regionale Perspektive eingenommen. Das Fazit der beiden Ökonomen, nachzulesen im Journal of Evolutionary Economics*, ist auf den ersten Blick überraschend positiv: Das Wachstum von Intershop und die darauf folgende Krise, in der zwei Drittel der Intershop-Jobs in Jena abgebaut wurden, haben Jena zu einem ernsthaften Standort für die Softwareentwicklung gemacht.

    Die zentrale Rolle bei dieser Entwicklung spielten unternehmerische Aktivitäten, die den Schrumpfungsprozess von Intershop seit 2000 begleiteten - nicht zuletzt mit Hilfe des Unternehmens selbst. Neue Unternehmen gründeten sowohl die drei Intershop-Gründer als auch frühere Mitarbeiter, die das Unternehmen verließen bzw. verlassen mussten. 40 dieser "Spin-offs" haben Bünstorf und Fornahl bislang gezählt, und die meisten davon haben sich in Jena und Umgebung angesiedelt. Noch immer kommen neue Ausgründungen hinzu, mittlerweile auch bereits in der "zweiten Generation", d. h. von früheren Spin-off-Mitarbeitern, die selbst keine Intershop-Erfahrung haben. Auch Intershop selbst hat sich in den letzten beiden Jahren gefangen und schreibt erstmals in der Firmengeschichte schwarze Zahlen.

    So entwickelt sich in Jena ein kleines, aber wachsendes Cluster von Softwarefirmen, die auf Internet-Programme und -Anwendungen spezialisiert sind. Aus der Auffanggesellschaft für entlassene Intershop-Mitarbeiter ist die TowerByte-Genossenschaft entstanden, ein Zusammenschluss von fast 30 kooperierenden Software-Firmen. Die Genossenschaft vereinfacht Neugründungen sowie Unternehmen von außerhalb, den Start in der Saalestadt. Ganz neu hinzugekommen und ebenfalls als Genossenschaft organisiert: TowerVenture, eine Beteiligungsgesellschaft zur Unterstützung IT-basierter Firmenneugründungen in der Region.

    Detroit, Silicon Valley - und Jena

    Guido Bünstorf wurde über Umwege auf den Fall "Intershop" aufmerksam. 2004 kehrte er von einem Forschungsaufenthalt in den USA zurück, wo er sich anhand historischer Fälle mit Prozessen der lokalen Clusterbildung befasst hatte. Gemeinsam mit dem Pittsburgher Ökonomen Steven Klepper entwickelte Bünstorf ein neues Modell der Entstehung räumlich konzentrierter Branchen. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen: Spin-offs, die von Mitarbeitern erfolgreicher Unternehmen gegründet wurden und ebenfalls häufig zu Marktführern wurden. "Was im Umfeld von Intershop zu beobachten war", erzählt Bünstorf, "sah dem verblüffend ähnlich, was wir über die US-Reifenindustrie oder über die Autostadt Detroit wussten."

    In den historischen US-Industrien war die Konzentration vor allem dadurch zustande gekommen, dass die ersten Unternehmen der Branche - darunter bekannte Namen wie Oldsmobile bei den Autos oder B.F. Goodrich und Firestone bei den Reifen - wiederum erfolgreiche Spin-offs hervorbrachten, die sich vorzugsweise in räumlicher Nähe zu ihrem "Herkunftsunternehmen" ansiedelten. Auch bei der Entstehung von Silicon Valley spielten Spin-offs eine zentrale Rolle. Der Halbleiter-Pionier Fairchild Semiconductors hatte so viele von ihnen, dass die Forscher sie scherzhaft als "Fairchildren" bezeichnen.

    Autonome Jobs und zerstörte Hoffnungen

    Verglichen mit den historischen Vorbildern war der Erfolg von Intershop nur von kurzer Dauer. Es folgte ein langer Überlebenskampf. Dennoch war und ist in der 100 000 Einwohnerstadt Jena, die große Zahl der Spin-offs nicht zu übersehen. Zusammen mit seinem damaligen Max-Planck-Kollegen Dirk Fornahl begann Bünstorf der Frage nachzugehen, ob auch der temporäre Erfolg eines Unternehmens Impulse für eine nachhaltige, positive Entwicklung durch Spin-off-Aktivitäten geben kann. Das besondere Interesse der beiden galt dabei den Lernprozessen in Unternehmen, denn die Herkunftsunternehmen sind die Trainingsfelder der späteren Unternehmer. Welche spezifischen Erfahrungen befähigen Mitarbeiter dazu, selbst Unternehmer zu werden?

    Mit Hilfe zahlreicher Interviews haben Bünstorf und Fornahl eine Antwort auf diese Frage gefunden. Dabei kristallisierten sich einige Erfahrungen als besonders wertvoll heraus, wie sie vielleicht nur in einem derart schnell wachsenden Unternehmen und in der Euphorie der New Economy gemacht werden konnten. Intershop-Mitarbeiter sammelten Erfahrungen, wie man sie sonst nur weit oben auf der Karriereleiter und nach langjähriger Berufstätigkeit macht. Dazu gehört, dass wenig erfahrene Mitarbeiter, zum Teil als Studienabbrecher oder Quereinsteiger zu Intershop gekommen, internationale Projekte verantworteten und Personalentscheidungen trafen. Obwohl sie Angestellte waren, bekam ihre Tätigkeit so eine unternehmerische Prägung. Die anspruchsvollen, weitgehend autonomen Jobs boten die Gelegenheit, die Fähigkeiten zu erwerben, die man für eine eigene Firmenneugründung brauchte.

    Mit dem Ende des New-Economy-Booms und dem Jobabbau bei Intershop verschlechterten sich die Karrierechancen im Unternehmen rapide, was vielen potenziellen Spin-off-Gründern die Entscheidung zur Selbstständigkeit ebenso erleichterte wie die Tatsache, dass andere IT-Jobs in Jena und Region spärlich gesät waren. "Necessity Spin-offs" nennt Guido Bünstorf die durch fehlende Job-Alternativen ausgelösten Ausgründungen. Zugleich waren die technischen Bedingungen in der Softwarebranche günstig für Spin-off-Aktivitäten. Durch das plötzliche Ende des Internet-Booms steckte mit Intershop eine Firma in der Krise, die zur technischen Avantgarde einer jungen Industrie gehörte und ein anerkannt gutes Produkt entwickelt hatte. Die Entwicklungspotenziale, die das Unternehmen als Pionier erschlossen hatte, konnte es nun nicht mehr selbst ausschöpfen.

    Clusterbildung ohne Clusterpolitik?

    Wirtschafts- und Regionalpolitiker haben seit langem erkannt, dass lokale Cluster das wirtschaftliche Wachstum und die Beschäftigung in der Region ankurbeln können. Vielerorts versucht die Politik, solche Cluster zu erzeugen, indem sie Neugründungen und Neuansiedlungen von Unternehmen mit Förderprogrammen unterstützt. Im Gegensatz dazu hat die Politik bei der Entwicklung im Intershop-Umfeld keine entscheidende Rolle gespielt - wiederum eine Parallele zur Clusterbildung in den historischen US-Industrien, in denen jeweils ein starkes, innovatives Unternehmen mit seinen Spin-offs die Keimzelle des Clusters war. Unternehmerische Aktivitäten, nicht politische Weichenstellungen, stehen demgemäß im Fokus der Cluster-Erklärung. "Jena ist traditionell ein Optik-Standort, nicht ein Software-Standort", meint Guido Bünstorf. "Kein Politiker hätte vorhersehen können, was hier seit der Intershop-Gründung passiert ist." Für die Politik sieht der Jenaer Ökonom daher in erster Linie die Aufgabe, für das offen zu sein, was sich vor Ort entwickelt, und den Gründungswilligen möglichst gute Rahmenbedingungen zu bieten

    Informelle Wissenstransfers, die Entstehung eines gemeinsamen Arbeitsmarkts für Branchenspezialisten und vertikale Verknüpfungen in der Wertschöpfungskette werden häufig als Ursachen positiver Effekte von Clustern angesehen. Alle drei Faktoren lassen sich in Jena beobachten - ausgehend von den Gründungsaktivitäten der Ex-Intershopper. Aus ihrer Intershop-Zeit kennen sich die Spin-off-Gründer. Es gibt einen regelmäßigen Software-Stammtisch, man hilft sich gegenseitig mit Expertise, Kundenkontakten und durchaus auch Kapital. Darüber hinaus wurde die Kooperation mit den TowerByte- und TowerVenture-Genossenschaften institutionalisiert. Ob die positive Entwicklung von Dauer sein wird, darüber wagen die Jenaer Ökonomen keine Prognose. Und dennoch: "Bislang mussten wir bei jeder Überarbeitung der Studie die Zahl der mit Intershop in Verbindung stehenden Neugründungen nach oben korrigieren", sagt Guido Bünstorf.

    *Orginalveröffentlichung: B2C - Bubble to Cluster: The Dot-com Boom, Spin-off Entrepreneurship, and Regional Agglomeration, DOI 10.1007/s00191-008-0119-3.

    Kontakt

    Dr. Guido Bünstorf
    Tel.: 036 41 686-821
    buenstorf@econ.mpg.de

    Petra Mader
    Tel.: 036 41 686-960
    mader@econ.mpg.de

    Max-Planck-Institut für Ökonomik
    Kahlaische Straße 10
    07743 Jena
    www.econ.mpg.de


    Bilder

    Der Jenaer Intershop-Tower - heute Firmensitz von rund 30 Softwareunternehmen
    Der Jenaer Intershop-Tower - heute Firmensitz von rund 30 Softwareunternehmen

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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Wirtschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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