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04.11.2008 10:00

Sterbehilfe zunehmend nicht nur für tödlich Kranke

Presse- und Informationsdienst SNF Presse- und Informationsdienst
Schweizerischer Nationalfonds SNF

    Suizidbeihilfe durch die Organisationen Exit Deutsche Schweiz und Dignitas

    Fast doppelt so viele Frauen wie Männer lassen sich von den Sterbehilfeorganisationen Exit Deutsche Schweiz (Stadtzürcher Fälle) und Dignitas in den Tod begleiten. Zu diesem Schluss kommt ein vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstütztes Forschungsprojekt, das erstmals die Praktiken der beiden Organisationen untersucht und miteinander vergleicht. Die Studie* zeigt auch, dass immer mehr nicht an einer tödlichen Krankheit leidende Menschen von Exit Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen.

    Forschende der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) haben die Fälle von Suizidbeihilfe untersucht, die zwischen 2001 und 2004 vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich abgeklärt wurden; jede Suizidbeihilfe ist meldungspflichtig und wird durch die Untersuchungsbehörden geprüft. Die Studie umfasst fast alle Fälle der Sterbehilfeorganisation Dignitas sowie die Stadtzürcher Fälle von Exit Deutsche Schweiz, also circa ein Drittel derer Fälle. Die Forschenden erhoben Geschlecht, Alter, Zivilstand, Nationalität, medizinische Diagnose, Krankheitstypen und anderes.

    Die Studie untersucht 274 Menschen, die von Dignitas, und 147 Menschen, die von Exit in den Tod begleitet wurden (zwischen 2001 und 2004). Zusätzlich verglichen die Forschenden die Daten mit einer Studie, die alle 149 Fälle von Suizidbeihilfe der Organisation Exit von 1990 bis 2000 in der Stadt Zürich untersucht hatte. "Bislang wurde die öffentliche Diskussion um die Sterbehilfe überwiegend emotional geführt. Mit unserer Studie erfassen wir diese Praxis wissenschaftlich aus unabhängiger Warte. Wir versuchen, damit einen Beitrag zur Versachlichung des Themas zu leisten", sagt der Arzt und Medizinethiker Georg Bosshard, der die Studie leitete.

    Lebensmüdigkeit gewinnt an Bedeutung
    Der Vergleich zeigt deutliche Unterschiede zwischen Dignitas und Exit auf: Während Exit bei den untersuchten Fällen nur ausnahmsweise Suizidbeihilfe bei Ausländern leistet (2001 bis 2004: 3 Prozent), stammen bei Dignitas 91 Prozent aller in den Tod begleiteten Menschen aus dem Ausland. Das Durchschnittsalter liegt bei Dignitas mit 65 Jahren deutlich unter jenem bei Exit (77 Jahre). "Dieser Unterschied könnte daher rühren, dass Sterbewillige aus dem Ausland genügend fit sein müssen, um in die Schweiz zu reisen", erklärt Bosshard. Grösser war bei Dignitas der Anteil von Menschen mit einer tödlichen Krankheit: 79 Prozent der Dignitas-Patienten litten an unheilbaren Krankheiten; dazu zählten die Forschenden zum Beispiel Krebs, multiple Sklerose und amyotrophe Lateralsklerose. Bei Exit betrug der Anteil zwischen 2001 und 2004 67 Prozent.

    Die übrigen Patienten litten nicht an einer tödlichen Krankheit. "Meist waren das alte Menschen mit mehreren diagnostizierten Krankheiten, zum Beispiel rheumatische Beschwerden oder Schmerzsyndrome", sagt die Soziologin Susanne Fischer, die Erstautorin der Studie. Der Vergleich mit den Stadtzürcher Daten von Exit aus den neunziger Jahren zeigt, dass diese Personengruppe deutlich grösser geworden ist. Von 1990 bis 2000 verzeichnete Exit 22 Prozent Sterbewillige, die nicht an einer tödlichen Krankheit litten. Zwischen 2001 und 2004 machten diese ein Drittel aller Fälle aus. Im gleichen Zeitraum stieg bei Exit auch das Durchschnittsalter von 69 auf 77 Jahre. "Lebensmüdigkeit und ein allgemein schlechter Gesundheitszustand haben also bei älteren Menschen aus der Schweiz an Bedeutung gewonnen als Motiv dafür, Suizidbeihilfe zu suchen", sagt Fischer. Der Grund für den Anstieg sei wahrscheinlich, dass die Sterbehilfeorganisation Exit aufgrund der grossen Nachfrage ihre Praxis lockerte. Exit habe in den neunziger Jahren angekündigt, sich für alte, lebensmüde Menschen öffnen zu wollen.

    Dass es immer wieder über 80-jährige, nicht todkranke Menschen gibt, die den Wunsch nach Suizidbeihilfe äussern, wisse man aus Studien in den Niederlanden, sagt Fischer. Dort ist die Suizidbeihilfe allerdings völlig in Ärztehand - und die holländischen Ärzte kommen solchen Sterbewünschen kaum je nach, weil es ihrer Berufsethik widerspricht, jemandem sterben zu helfen, der keine tödliche Krankheit hat. "Im Unterschied dazu scheint man in unserem System, wo Sterbehilfeorganisationen eine wichtige Rolle spielen, eher bereit, Suizidbeihilfe auch für nicht todkranke alte Menschen zuzulassen", sagt Fischer.

    Deutlicher Geschlechterunterschied
    Die Ergebnisse fördern auch einen deutlichen Geschlechterunterschied zu Tage: Bei beiden Sterbehilfeorganisationen nahmen in den letzten Jahren deutlich mehr Frauen als Männer die Suizidbeihilfe in Anspruch (Dignitas: 64 Prozent; Exit: 65 Prozent). In den neunziger Jahren war die Verteilung bei Exit mit einem Frauenanteil von 52 Prozent noch ausgeglichen. "Die Analyse der Gründe ist noch nicht abgeschlossen", sagt der Pflegewissenschaftler Lorenz Imhof. Die Forschenden vermuten, dass ein Faktor die höhere Lebenserwartung von Frauen ist: Sehr alte Menschen haben oft mit dem Leben abgeschlossen. Aus Suizidstatistiken ist auch bekannt, dass sich Männer häufiger selber umbringen - lebensmüde Frauen hingegen könnten sich eher an eine Sterbehilfeorganisation wenden.

    Die auch von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) unterstützte Studie dokumentiert auch, dass sowohl Dignitas als auch Exit in einzelnen Fällen bei psychisch Kranken Suizidbeihilfe geleistet haben. Dies gilt unter Experten als umstritten, zumal nur urteilsfähigen Personen Beihilfe geleistet werden darf. "In seinem Bericht muss der abklärende Arzt deshalb Stellung nehmen zur Frage der Urteilsfähigkeit", erklärt Georg Bosshard. Bei den vorliegenden Fällen hätten offenbar auch die Untersuchungsbehörden die Sterbehilfe als rechtmässig beurteilt. Ihm seien jedenfalls keine Strafverfahren bekannt.

    Kontakt:
    PD Dr. Georg Bosshard
    Leitender Arzt für Klinische Ethik
    Universitätsspital Zürich
    Rämistrasse 100
    8091 Zürich
    Tel: 044 255 93 91
    E-mail: georg.bosshard@usz.ch

    * S. Fischer, C.A. Huber, L. Imhof, R. Mahrer Imhof, M. Furter, S.J. Ziegler, G. Bosshard. Suicide assisted by two Swiss right-to-die organisations. Jour-nal of Medical Ethics 2008.

    Begriffsdefinition und Rechtslage
    Unter Suizidbeihilfe versteht man die Bereitstellung oder Verschreibung eines tödlichen Medikamentes, das einer Person die Selbsttötung ermöglicht.
    In der Schweiz ist die Beihilfe zum Suizid, solange diese nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen erfolgt (Art. 115 StGB), nicht strafbar. Gemäss geltender Praxis darf Beihilfe nur urteilsfähigen Personen geleistet werden. Das Strafgesetz schreibt aber keine medizinischen Bedingungen vor. Demgegenüber erlauben die - gesetzlich nicht bindenden - Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) die ärztliche Beteiligung an der Beihilfe zum Suizid nur bei Patienten am Lebensende.


    Weitere Informationen:

    http://www.snf.ch > Medien > Medienkonferenzen


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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